Andri Ragettli: Ihn kennt man sogar bei Real Madrid

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Willkommen in der Welt von Andri Ragettli, dem Freeski-Star aus Flims und wohl einzigen Skifahrer, den man sogar bei Real Madrid kennt.

Seine Anfänge

Andri Ragettli, 25, wuchs in Flims auf und ist dageblieben. Vom Familienhaus aus hat er freie Sicht auf den Crap Sogn Gion, den Berg im Skigebiet Laax mit der unverwechselbaren Station. Laax, Crap Sogn Gion – das sind Synonyme für Freestyle-Schneesport, ob auf dem Snowboard oder auf den Ski. Es kann also nicht verwundern, dass aus Ragettli ein Freeskier geworden ist.

Als Bub fuhr er Skirennen und spielte Fussball, in beidem stach er heraus. Im Alter von zehn Jahren bekam Ragettli einen ersten Eindruck davon, wie es sich anfühlen könnte, als umjubelter Sportler im Rampenlicht zu stehen. An der Fussball-EM 2008 in Österreich und der Schweiz erlebte er den Match Niederlande gegen Frankreich als Einlaufkind mit. «Ich hatte Hühnerhaut, als ich mit den Spielern ins ausverkaufte Wankdorf einlief, es war ein unglaubliches Gefühl», sagt Ragettli. Zumindest unterbewusst habe dieser Wow-Effekt wohl schon den Wunsch in ihm geweckt, so etwas auch einmal als Hauptdarsteller zu erfahren.

Bald merkte Ragettli, dass er sein Glück weder im Ski Alpin noch im Fussball versuchen wollte. Sondern als Freeskier. Es gab Stimmen, die sagten, da gehe ein grosses Talent an eine Sportart ohne Zukunft verloren. Ragettli nahm solche Skepsis als Ansporn, das Gegenteil zu beweisen. Er wollte weltbekannt werden und Geld verdienen mit dem Sport seiner Wahl. Laax bot vieles, was er dafür brauchte: einen der weltbesten Snowparks und ab 2010 auch die Freestyle Academy mit Trampolinen, Schnitzelgruben und Luftkissen.

Sein Aufstieg

Vier Tage nach dem 15. Geburtstag debütierte Andri Ragettli im Weltcup, denkbar weit weg von daheim: in Neuseeland. Er besuchte mittlerweile die Sportmittelschule Engelberg. Seine Sportart stand kurz vor der olympischen Feuertaufe – und entwickelte sich entsprechend rasant. Das gelang auch Ragettli, mit 17 gehörte er bereits zu den Weltbesten, 2016 feierte er in Silvaplana den ersten Weltcup-Triumph im Slopestyle.

Bis heute sind in seiner Paradedisziplin zehn Siege und zehn weitere Weltcup-Podestplätze zusammengekommen – damit überragt Ragettli alle. Im Big Air stand er sieben Mal auf dem Weltcup-Podium. An den prestigeträchtigen X-Games hat er insgesamt drei Siege und drei dritte Plätze erreicht, an Weltmeisterschaften im Slopestyle 2021 Gold und 2023 Bronze gewonnen. «Am besten in Erinnerung geblieben sind mir Erfolge, die aus schwierigen Situationen entstanden», sagt Ragettli, «als alles danach aussah, als würde ich es nicht schaffen.» Er denkt etwa an den Weltcup-Contest 2019 in Silvaplana, als er im Final den ersten Run verhaute, als letzter Starter oben stand – und alle übertrumpfte. «Das war die ultimative Show!»

Seine Rückschläge

Andri Ragettli hat sich schon mehrmals mitten in einem sportlichen Hoch verletzt, aber kein Einschnitt ging tiefer als das, was er an den Weltmeisterschaften 2021 in Colorado erlebte. Drei Tage nach dem Titelgewinn im Slopestyle erlitt Ragettli im Big-Air-Final einen Kreuzbandriss. Ein anderer Tiefschlag: Olympische Spiele 2018 in Pyeongchang, Ragettli, der 19-jährige Debütant, will unbedingt eine Medaille, er hat den schwierigsten Sprung aller Teilnehmer auf Lager, doch das Kunststück missglückt ihm zweimal. Ragettli wird Siebenter und ist in Tränen aufgelöst.

So heftig Ragettli im emotionalen Ausnahmezustand reagiert, so gut gelingt es ihm jeweils, den Blick wieder nach vorne zu richten und das Geschehene anzunehmen. Ohne diese Fähigkeit wäre es undenkbar gewesen, im Januar 2022, zehn Monate nach dem Kreuzbandriss, mit einem Weltcup-Sieg in den französischen Pyrenäen und einem weiteren Sieg an den X-Games in Aspen zurückzukehren. Dem perfekten Comeback folgte Rang 4 an den Winterspielen in Peking. «Eine bittere Pille, weil ich wusste: Hätte ich nicht nachfassen müssen bei diesem einen Grab, wäre ich Erster oder Zweiter geworden.»

Sein Profil

Es ist keine gewagte These: Andri Ragettli verdankt seine Bekanntheit mehr den sozialen Netzwerken als den klassischen Medien. Von den Schweizer Wintersportlerinnen und Wintersportlern beherrscht diese Klaviatur höchstens noch der Snowboarder Nicolas Huber so virtuos wie er. Auf TikTok folgen Ragettli rund zwei Millionen Menschen, auf Instagram mehr als 600'000 – doppelt so viele wie Marco Odermatt. Die Absicht, eine Million Follower zu erreichen, verfolgt er wie ein sportliches Ziel. Videos zirkusreifer Geschicklichkeitsparcours wurden millionenfach angeklickt, und doch lässt Ragettli dieses Genre, diesen Quotengaranten seit einiger Zeit beiseite. «Ich weiss nicht, was ich noch draufpacken könnte, deshalb wäre es irgendwie künstlich und langweilig, nochmals und nochmals nachzulegen.»

Eine Zeit lang präsentierte sich Ragettli regelmässig im Trikot seines liebsten Fussballklubs Real Madrid, Modell Cristiano Ronaldo. Ein Video, das viral ging, erregte auch die Aufmerksamkeit der «Königlichen». Also schickte Real ein Filmteam nach Flims, lud Ragettli an einen Match ins Bernabéu ein und produzierte ein Porträt des besonderen Fans aus den Bündner Bergen, für das Millionenpublikum des klubeigenen YouTube-Kanals.

Ragettli begann aus Spass mit Social Media, ohne Hintergedanken, dass daraus einmal ein zentraler Pfeiler seines Geschäftsmodells werden könnte. Ragettli ist sich bewusst, in einer Randsportart tätig zu sein. Statt diesen Umstand zu beklagen, hat er vorgemacht, wie gut Selbstvermarktung im digitalen Raum heutzutage funktionieren kann.

Es gab eine Phase, da wurde Ragettli weit häufiger als Social-Media-Star apostrophiert denn als erfolgreicher Freeskier. «Die Zeit» warf einmal die Frage auf: «Ist Ragettli ein Sportler, der nebenbei zum Social-Media-Star wurde? Oder ist er ein Social-Media-Star, der nebenbei Sport macht?» Wie unverschämt! Ja, Ragettli scheiterte hundertfach, ehe er seine berühmten Geschicklichkeitsparcours fehlerfrei meisterte. Aber Freeski nur nebenbei? Es ist vielmehr so, dass Ragettli den Goldstandard setzt in Sachen Professionalität, fast so, als gelte es immer noch, mit längst überholten Klischees aufzuräumen, die den Freestyle-Sportarten in manchen Kreisen bis heute anhaften.

Seine Challenges

Er joggte schon von Flims nach Schmerikon, 100 Kilometer in zehn Stunden – und sagt, er wolle einmal 100 Meilen laufen, also 160 Kilometer. Er nahm einmal ein halbstündiges Eisbad im Caumasee, als rundherum alles gefroren war. Andri Ragettli sucht nicht nur auf den Ski ständig neue Herausforderungen. Er träumt davon, eine Tube zu surfen, eine röhrenförmige Welle. Nach der vergangenen Saison verbrachte Ragettli dreieinhalb Wochen auf Bali, es gab kaum einen Tag, an dem er nicht surfte. «Ich war nahe dran an einer Tube», sagt Ragettli, «ich hätte es mittlerweile drauf, aber ich warte immer noch auf die perfekte Welle.» Es sei wie mit dem perfekten Powder-Tag im Schnee: «Manchmal gibt es den ganzen Winter lang keinen.» Gut, dass es nicht eilt mit der Tube, «dieses Ziel kann ich auch noch in zehn Jahren erreichen».

Sein Buch

Andri Ragettli reagierte skeptisch, als ihn die Anfrage des Giger-Verlags erreichte, ob er ein Buchprojekt realisieren möchte. «Ein eigenes Buch war zwar etwas, das ich unbedingt einmal machen wollte – mit 40 oder 50, aber doch nicht so jung.» Doch er liess sich von der Idee überzeugen, er dachte, für Teenager sei ein Andri-Ragettli-Buch wohl eher jetzt inspirierend, als wenn er es als Ergrauter herausbringe. «Attack your dreams» erschien vor einem Jahr und hielt sich während mehrerer Wochen auf der Bestsellerliste. Als Ghostwriterin fungierte seine Schwester Christina, die einige Monate zuvor ihr Buch «Von Wegen– eine Frau allein auf der Via Alpina» veröffentlicht hatte.

Seine Nächsten

Andri Ragettli ist als Halbwaise aufgewachsen, er war einjährig, als sein Vater Gion-Martin bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. Umso enger sind die Bande zu Mutter Beatrice und den beiden älteren Geschwistern Christina und Gian. Die Ragettlis eint, dass sie ihre Träume leben. Christina hat sich als «Wanderpäpstin der Schweiz», wie sie der «Tages-Anzeiger» kürzlich bezeichnete, einen Namen gemacht. Gian gewann 2012 den Junioren-Contest am Verbier Xtreme sowie die Gesamtwertung der Freeride Junior Tour und verbrachte einmal einige Monate in einem entlegenen Shaolin-Kloster in China.

Beide gehören nicht nur zur Familie, sondern auch zum engsten beruflichen Umfeld von Andri Ragettli. Christina orchestriert die PR- und Medienarbeit, Gian ist als professioneller Filmer angestellt, der unter anderem das Material für das monatliche TV-Format «Andri Ragettli on Tour» liefert. Beatrice Ragettli kümmert sich im kleinen Familienunternehmen um Buchhaltung, Steuern und Merchandising. Der Manager Marius Cadalbert, den Ragettli ursprünglich als Mentaltrainer beizog, ist ein Freund der Familie.

Seine Vorbilder

Andri Ragettli orientiert sich an den Herausragenden dieser Welt. Ihm imponiert etwa, wie Shaun White, die Gallionsfigur des Halfpipe-Snowboardens, seinen Sport geprägt hat. Oder die Langlebigkeit und Selbstdisziplin von Cristiano Ronaldo. Er hat die Biografie von Kobe Bryant gelesen, dem getriebenen und mittlerweile verstorbenen NBA-Superstar. White, Ronaldo, Bryant – solche Grössen inspirieren Andri Ragettli, seine eigene Geschichte weiterzuschreiben. Vielleicht reicht der Stoff dereinst ja für ein zweites Buch.