Überflieger Marco Odermatt: Der gewöhnliche Ungewöhnliche

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In Soldeu hat Marco Odermatt erneut eine Machtdemonstration abgeliefert: Sieg im Super-G, Sieg im Riesenslalom, mit 2042 Weltcup-Punkten einen neuen Rekord aufgestellt. Der Lohn dafür: die grosse Kristallkugel. (Bild: Keystone-SDA)

Marco Odermatt ist auch in diesem Winter der kompletteste Skirennfahrer. Der zweifache Gesamtweltcup-Sieger ist der alpine Gradmesser, dem alles ein bisschen leichter fällt.

Es tönt nach der Quadratur des Kreises, nach etwas Unmöglichem, einem Widerspruch in sich. Die Scheinwelt lässt grüssen. Schweben, ohne den Bodenkontakt zu verlieren? Geht logischerweise nicht. Doch, geht. Marco Odermatt hat den Beweis erbracht. Als Überflieger der Alpin-Szene ist ihm wichtig, nicht abzuheben. Er legt Wert darauf, sich selbst zu sein, Normalität zu wahren, obwohl er dem Gewöhnlichen längst entflohen ist.

Vom Gewöhnlichen hat sich Odermatt in der zu Ende gehenden Saison noch einmal ein Stück weiter entfernt, in einem Winter, in dem er erneut für Superlative am Fliessband gesorgt, sich doppelt mit Gold dekoriert hat und dreifach mit Kristall belohnt hat. Weltmeistertitel in der Abfahrt und im Riesenslalom, 13 Saison-Siege im Weltcup, dazu fünf zweite und vier dritte Plätze, der geknackte 2000-Punkte-Rekord – Fakten und Zahlen als Nachweis erneut herausragender Leistungen.

Odermatt hat sein Mammutprogramm ohne Schwäche abgespult. Seine Konstanz auf allerhöchstem Niveau verblüfft genauso wieder wie die Leichtigkeit, mit der er auch die schwierigsten und kniffligsten Aufgaben löst.

Erfolge an Weltmeisterschaften, im Weltcup und an Olympischen Spielen haben den Weg frei gemacht ins Scheinwerferlicht, ins Zentrum des Interesses. Odermatt weiss die Zeichen seit dem Vorstoss in die Elite seines Sports richtig zu deuten. Im Umgang mit Schulterklopfern und Lobhudeleien erinnert er sich seiner Grundwerte. Die Rolle des Dominators hat aus ihm keinen anderen Menschen gemacht. Anpassungen hat er ausschliesslich zum Selbstschutz vorgenommen, zur Wahrung einer Privatsphäre in noch akzeptablem Umfang zum Beispiel.

Das Spiel zwischen den Fronten

Privatsphäre heisst für einen Spitzensportler auch Entspannung. Odermatt beherrscht das Spiel zwischen den Fronten perfekt, den Wechsel zwischen Fokussierung und Loslassen, zwischen Leistungsdruck und Musse. Es ist eine der Begabungen, die wohl erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind, in Odermatts Alltag als Skirennfahrer aber Entscheidendes bewirken können. Familie und Freundeskreis bilden das perfekte Umfeld, in dem der Blondschopf die Kraft für seine Grosstaten tankt.

Zu Grosstaten wären vom fahrerischen Können her viele von Odermatts Konkurrenten befähigt. Den Unterschied zwischen den Guten und den ganz Guten macht die mentale Seite. «Skirennen werden im Kopf entschieden», sagt der Innerschweizer. «Es geht darum, die bestmögliche Leistung im Ernstkampf abrufen zu können – oder vielleicht noch ein Prozent mehr. Dafür braucht es einen starken Kopf.»

Odermatt arbeitet seit Jahren mit Mentaltrainerin Monika Wick-Hess zusammen, der einstigen Slalom-Spezialistin und Cousine von Erika Hess. «Der Kontakt beschränkt sich auf wenige Male pro Jahr. Dennoch gehört Besprochenes bei der Vorbereitung für Trainings und Rennen praktisch zum täglichen Ritual.»

Er habe für jede mögliche Situation einen Plan parat. Nervosität etwa bekämpft Odermatt mit Atemübungen. Dazu setzt er auf Visualisierungen «Einen Lauf gehe ich nach der Besichtigung mindestens zehnmal in Gedanken durch, damit Kopf und Körper wissen, wo es lang geht.» Es gehe darum, alle Gedanken so zu richten, dass «es passt, dass keine Zweifel aufkommen».

Die Reaktion auf Enttäuschungen

Zweifel sind bei Odermatt noch selten bis nie aufgekommen – auch nicht in Phasen, in denen es nicht wunschgemäss gelaufen ist, sich die Resultate wie an den Weltmeisterschaften vor zwei Jahren in Cortina d'Ampezzo nicht wie erhofft eingestellt und selbstredend zusätzlichen Druck erzeugt haben. Odermatt beherrscht auch den Umgang mit der Erwartungshaltung meisterhaft. Auf Enttäuschungen hat er ausnahmslos stark reagiert – an den Olympischen Spielen in Peking im vergangenen Winter genauso wie an den diesjährigen Weltmeisterschaften in Courchevel.

Odermatts Fähigkeit, auf ein Tief ohne Verzögerung ein Hoch folgen zu lassen, dürfte nicht nur auf sein immenses Selbstvertrauen zurückzuführen sein, sondern auch damit zusammenhängen, dass bei ihm als Jugendlichem nicht Siege und Titel im Vordergrund standen. Als primäres Ziel verfolgte er den Aufstieg zum Weltcup-Fahrer. «Einer meiner Träume war, am Chuenisbärgli in Adelboden am Start zu stehen.»

Im Kreis der Weltcup-Fahrer sah sich Odermatt ein erstes Mal vor fünf Jahren angekommen. Anderthalb Monate nach seinen fünf Titelgewinnen an den Junioren-Weltmeisterschaften in Davos eroberte er beim Saisonfinale in Åre in Schweden in Abfahrt, Super-G und Riesenslalom Weltcup-Punkte. Ein Jahr danach stand er als Dritter des Riesenslaloms in Kranjska Gora in Slowenien ein erstes Mal auf einem Weltcup-Podest.

Es waren die logischen Schritte eines Talents. Es war der Anfang des Aufstiegs in damals ungeahnte Sphären. Aus dem Hochbegabten ist der Überflieger geworden, der Aussergewöhnliche, der so gewöhnlich geblieben ist.

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