«Habe jeden Stein umgedreht»

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Cédric Noger ist das, was man gemeinhin als «Spätzünder» bezeichnet. Mit 26 Jahren gelang dem St. Galler im vergangenen Winter der Durchbruch im Weltcup. Für den Riesenslalom-Spezialisten folgte ein Highlight auf das andere: Erster Europacupsieg, Weltcup-Debüt, 4. Rang in Kranjska Gora, Qualifikation für das Weltcup-Finale in Andorra und schliesslich der Schweizer Meistertitel in seiner Paradedisziplin.

Im Interview äussert sich Cédric Noger über seinen steinigen Weg bis zum Debüt im Weltcup, die gestiegenen Erwartungen sowie seine Ziele in der neuen Saison – und der A-Kader-Athlet aus Wil SG erklärt, wieso der Weltcup-Auftakt in Sölden für ihn eine Art Heimrennen ist.

Cédric, du warst im vergangenen Winter DER Aufsteiger innerhalb des Schweizer Teams. Welches der zahlreichen Highlights bezeichnest du rückblickend als den wichtigsten Moment?

Cédric Noger: Es war der Moment, als ich in Saas-Fee teamintern die Qualifikation für das erste Saisonrennen, den Weltcup-Riesenslalom von Sölden, geschafft habe. Ich war schon im Jahr zuvor vor diesem Qualifikationsrennen gut drauf gewesen, dann aber auch so dermassen nervös, dass ich den Lauf verhauen habe und keine Chance auf einen Startplatz in Sölden hatte. Vor der letzten Saison hatte ich nun wiederum einen guten Sommer und Herbst. Ich habe mich technisch und auch bezüglich Material verbessert und wusste deshalb, dass ich das Zeug habe, die Qualifikation zu schaffen. Aber ich wusste nicht, wie es im mentalen Bereich aussieht. Schliesslich war ich zwar wiederum nervös, aber ich habe zwischen Oktober 2017 und Oktober 2018 gelernt, richtig damit umzugehen. Leider wurde das Rennen dann wegen des schlechten Wetters abgesagt. Ich wusste damals natürlich nicht, wann die nächste Chance kommt, endlich einmal auf Stufe Weltcup das Starttor auslösen zu können.

Schliesslich war dies dann in Alta Badia, kurz vor Weihnachten, mit zwei Monaten Verzögerung der Fall.

Das war ein weiterer wichtiger Moment für mich. Ich erreichte zwar «nur» den 36. Platz. Doch mit diesem Rennen wuchs in mir das Bewusstsein, dass es durchaus möglich ist, im Weltcup in die Top 30 zu fahren. In diesem Sinn war es ein wichtiger Mosaikstein für den weiteren positiven Verlauf der Saison.

Wie lebt es sich damit, als «Spätzünder» bezeichnet zu werden?

Grundsätzlich stimmt die Bezeichnung natürlich, es ist die Wahrheit. Und der Ausdruck hat ja auch eine positive Komponente, da aus ihm hervorgeht, dass ich «gezündet» habe. Es hat sich in meinem Fall gezeigt, dass man Athleten nicht zu früh abschreiben soll. Es gibt Gründe, warum ich so spät gezündet habe – bei den einen liegt die Ursache bei mir, bei anderen nicht.

Auf was führst du die markante Leistungssteigerung in der vergangenen Saison zurück?

Es gibt nicht den einen Punkt, den ich hierfür ausmachen kann. Vielmehr waren es verschiedene Faktoren, die eine Rolle gespielt haben. So hatte ich beispielsweise eine hervorragende physiotherapeutische Betreuung im Europacup, die sehr viel bewirkt hat. Früher machten mir Probleme mit der Hüfte zu schaffen, ich zog sogar eine Operation in Betracht. Heute denke ich überhaupt nicht mehr daran. Ich konnte meine Technik verbessern, indem ich den Linksschwung an meinen guten Rechtsschwung anpassen konnte. Noch heute liegt zwar die Ursache von Fehlern oft im Linksschwung, aber das hat sich markant reduziert. Zudem gab es – wie bereits erwähnt – Änderungen beim Material. All dies führte dazu, dass ich mit mehr Sicherheit und dadurch mit grösserem Selbstvertrauen fahren konnte.

Gottseidank hatte ich auch in den schwierigen Zeiten immer ein sensationelles Umfeld, mit dem ich mich austauschen konnte.


Nicht wenige in deinem Umfeld dürften sich bis im vergangenen Dezember gefragt haben, warum du dir den grossen Aufwand trotz der lange Zeit ausgebliebenen Fortschritte überhaupt antust. Woher kommt dein unbändiger Wille, trotz aller Widrigkeiten nie aufzugeben?

Nach meiner Zeit im Sportgymnasium Davos habe ich privat trainiert und einen grossen Leistungssprung gemacht. Ich habe sehr gute Resultate erzielt. Damals wurde mir bewusst, was alles in mir stecken kann. Ich konnte dann aber aus verschiedenen Gründen die erhofften Leistungen nicht abrufen und habe dies dann gründlich analysiert. Bei denjenigen Gründen, die ich beeinflussen konnte, sah ich die Möglichkeit, den Schwächen entgegenzuwirken. Bei denjenigen Gründen, auf die ich keinen direkten Einfluss hatte, war es so: Ich traf für mich den Entscheid, wegen solchen Dingen nicht vorzeitig aufzuhören. Ich wollte es nach einem Jahr, mit ein bisschen Abstand, nicht bereuen, mit dem Skisport aufgehört zu haben. Oftmals ist es ja so, dass etwas rückblickend nicht mehr als so schlimm empfunden wird. Aber klar: Ich kam schon auch an einen Punkt, wo ich wusste, dass es vorwärtsgehen musste. Schliesslich hatte ich an vielen Schrauben gedreht und jeden Stein umgedreht – viele Möglichkeiten gab es irgendwann nicht mehr. Zum Glück kam dann aber der erste Schritt vorwärts, bald darauf der zweite und dritte. Gottseidank hatte ich auch in den schwierigen Zeiten immer ein sensationelles Umfeld, mit dem ich mich austauschen konnte. Ohne diese Leute hätte es sicher nicht mit den Fortschritten geklappt.

Man sagt, in schlechten Zeiten zeige sich, welches die wahren Freunde sind. Für den Umgang mit den nun sicherlich zahlreichen sogenannten Schulterklopfern dürfte dies im Nachhinein hilfreich sein.

Heute kann ich über Leute, die mich belächelt haben, nun aber als Schulterklopfer auftreten, lachen. Aber als es nicht lief, habe ich mir natürlich Gedanken gemacht. Ich habe mich in der vergangenen Saison aber lieber über meine Erfolge gefreut als Sticheleien solchen Personen gegenüber anzuzetteln. Eigentlich habe ich mir gedacht, die Genugtuung diesen Leuten gegenüber würde grösser sein. Letztlich überwog die Freude für mein Umfeld und für mich selbst jedoch deutlich. Die anderen waren mir egal. Mein erster Gedanke war nicht: So, jetzt habe ich es euch allen gezeigt.

Wie kam es dazu, dass du den Weg zum Ski-Profi eingeschlagen hast?

Als Jugendlicher hat mich Fussball eigentlich immer mehr interessiert als der Skisport, aber ich habe beide Sportarten ausgeübt. Mein Vater stammt aus Ebnat-Kappel im Toggenburg, wir waren im Winter oft dort. Ich wollte auch mal snowboarden, aber bei uns in der Familie hiess es immer: Snowboarden ist ok, aber es wird auch immer noch Ski gefahren. Nur snowboarden – das gab es bei meinem Vater nicht. Im Nachhinein muss ich sagen: Zum Glück. Letztlich ergab sich eines nach dem anderen: Irgendwann trat ich dem Skiclub Speer Ebnat-Kappel bei, dann folgten Rennen – und irgendwann wollte ich unbedingt eine dieser schönen roten Skijacken des Ostschweizer Skiverbands. Da blieb mir nur eines übrig: Mehr trainieren. Und irgendwann habe ich es ins Junioren-Kader des OSSV geschafft, später wollte ich unbedingt ins Sportgymnasium Davos.

Welches sind deine ersten Kindheitserinnerungen im Zusammenhang mit dem Skirennsport?

Meine Eltern haben sich die Rennen jeweils im Fernsehen angeschaut. Sie mussten mich jeweils rufen, wenn eine Schweizerin oder ein Schweizer am Start stand. Richtig Fan war ich als Erstes von Sonja Nef. Kurz bevor sie ihre Karriere beendet hat, war sie zum Skifahren in Alt St. Johann. Ich kannte ihren Trainer und durfte ihr dort die ganze Zeit hinterherfahren. Das war für mich ein riesiges Erlebnis. Die Autogrammkarte, die ich damals von ihr erhalten habe, hängt heute noch in meinem Zimmer. Auch von Mike von Grünigen war ich ein grosser Fan.

Das Gefühl, wenn im Riesenslalom alles perfekt aufgeht, ist für mich nicht zu toppen.


Beide gewannen WM-Gold im Riesenslalom. Kommt von daher deine Liebe zu dieser Disziplin?

Nein, das ergab sich zwangsläufig. Ich war im Riesenslalom immer etwas besser als im Slalom. Nach meiner Zeit im Sportgymnasium Davos war ich zwar auch im Slalom auf einem guten Weg, als ich dann erstmals ins Swiss-Ski Kader kam, lief es aber nicht wie gewünscht. Später flog ich gar wieder aus dem Kader. Für mich war es danach realistischer, die Rückkehr über eine Disziplin, sprich über den Riesenslalom, zu schaffen. Ich wollte später auch wieder in den Slalom investieren, aber die Arbeit im Riesenslalom nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Mit der Zeit kamen Trainings im Super-G hinzu, die für den Riesenslalom auch hilfreich sind. Mir macht der Riesenslalom einfach am meisten Spass. Das Gefühl, wenn in dieser Disziplin alles perfekt aufgeht, ist für mich nicht zu toppen.

Der Saison-Auftakt findet traditionell in Sölden statt. Nicht nur wegen der Nähe zur Ostschweiz darf man durchaus von einer Art Heimrennen für dich sprechen.

Das Rennen in Sölden ist für mich aus verschiedenen Gründen speziell. Meine Freundin stammt aus Längenfeld, einer Gemeinde im Ötztal unweit von Sölden. Teilweise absolviere ich dort mein Kondi-Training. Hinzu kommt, dass ich früher mit dem Skiclub jeweils nach Sölden ins Lager gereist bin und Kollegen von mir seit Jahren für die Weltcup-Rennen als Fans dorthin reisen. Als ich auch einmal als Zuschauer bei den Weltcup-Rennen in Sölden war, habe ich meine heutige Freundin kennengelernt. Ich freue mich wirklich sehr auf dieses Auftakt-Wochenende. Früher, als wir mit dem Skiclub dort waren, haben wir jeweils kurz vor dem Weltcup-Rennen die damaligen Ski-Stars gesehen und uns natürlich gedacht, wie schön es wäre, hier auch einmal starten zu können. Meine letzten Schwünge auf dem Rettenbachgletscher sind mittlerweile aber etwa 15 Jahre her.

Wie kannst du am besten vom Skisport abschalten? Was bringt dich auf andere Gedanken?

Ich investiere viel Zeit in die Meditation, was mir extrem guttut. Als Abwechslung im Training gehe ich ins Jiu Jitsu. Ansonsten schaue ich in meiner Freizeit sehr gerne Fussball, wenn es geht auch im Stadion, meist in St. Gallen. Grundsätzlich dreht sich bei mir jedoch schon sehr vieles ums Skifahren, doch das stört mich auch nicht. Dies ist auch ein Grund, warum ich trotz einiger schwieriger Phasen diesen Sport noch immer ausübe. Ich suche laufend Dinge, die ich optimieren kann.

Auf deiner Website steht, dass du gerne Biographien liest? Welche fasziniert dich besonders?

Jene von Hermann Maier. Während seiner Aktivkarriere war ich nie ein Fan von ihm, schliesslich habe ich ja jeweils mit den Schweizern mitgefiebert. Ich Nachhinein bin ich allerdings stark beeindruckt, was er alles geleistet hat, mit welchem Willen er alles geschafft hat. Seine Biographie lese ich immer mal wieder, erstmals habe ich dies während meiner Davoser Zeit getan. Ich denke schon, dass sich dies auch etwas auf meinen Durchhaltewillen abgefärbt hat. Wenn man Hermann Maiers Biographie liest, wird einem bewusst, was man alles den grossen Erfolgen unterordnen muss.

Einer deiner wichtigsten Wegbegleiter ist wie Hermann Maier ein ehemaliger österreichischer Weltcup-Fahrer, nämlich Dietmar Thöni. Er war in den schwierigen Jahren dein Privattrainer. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit ihm – und welche Rolle spielt er heute?

Ich gelangte irgendwann an den Punkt, wo ich wusste, dass ich etwas ändern muss, wenn ich weitermachen will mit dem Skifahren. Mir ist aufgefallen, dass eine Kollegin vom Sportgymnasium Davos in einem Winter extrem grosse Fortschritte gemacht hat. Ich habe sie dann gefragt, wie sie das geschafft hat. Sie erzählte mir von Dietmar Thöni, der sie als Privattrainer unterstützte. Einige Zeit später habe ich sie nach der Nummer von ihm gefragt. Daraufhin haben wir eine Art Probetraining gemacht – und es hat gepasst. Seither hat sich ein extrem gutes Verhältnis entwickelt, auch abseits vom Skifahren. Er hat mich während einer schwierigen Zeit begleitet, das schweisst zusammen. Heute bin ich voll in den Verbandsstrukturen drin, ich frage ihn aber gleichwohl ab und zu um Rat und seine Meinung als Aussenstehender.

Nur noch Top-10-Ränge auszurufen, wäre vermessen. Ich will aber auch nicht tiefstapeln, denn ein 30. Platz macht mich nicht glücklich.


Du bist auf diese Saison hin ins A-Kader von Swiss-Ski aufgestiegen. Wie gehst du mit der deutlich höheren Erwartungshaltung deiner Person gegenüber um?

Die Erwartungshaltung steigt auch von meiner Seite. Stand jetzt kann ich mir nicht vorstellen, dass mich die gestiegenen Erwartungen von Externen beeinflussen. Letztlich darf man nicht vergessen: Ich habe bislang erst sechs Weltcup-Rennen absolviert. Ein 20. Rang in Sölden wäre für mich gut. Ich würde mich darüber aber zugegebenermassen nicht mehr gleich freuen wie noch im letzten Winter. Es geht darum, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Ich darf von mir selbst nicht erwarten, dass ein Top-10-Platz in Sölden eine geritzte Sache ist – auch wenn ich im Weltcup im vergangenen März schon einmal Vierter geworden bin.

Welche Ziele hast du dir für die bevorstehende Saison gesetzt?

Am Anfang wird es darum gehen, konstant in die Punkte zu fahren. Danach will ich mich selbstverständlich nach vorne orientieren. Optimal wäre deshalb ein guter Start. Nur noch Top-10-Ränge auszurufen, wäre jedoch vermessen. Ich will aber auch nicht tiefstapeln, denn ein 30. Platz macht mich auch nicht glücklich. Wenn ich Ende Saison im Riesenslalom in den Top 20 bin, dann passt das. Wenn es für die Top 15 reicht, dann nehme ich das natürlich gerne. Es ist nicht so, dass ich schon zehn Saisons im Weltcup hinter mir habe. Es geht darum, eine Stabilität über mehrere Winter hinweg zu haben. Nach der letzten Saison weiss ich, dass es nicht verkehrt sein kann, was ich bisher gemacht habe. Ich bin überzeugt, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.