«Noch besser zu werden wird schwierig, aber es ist unser Ansporn»

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Swiss-Ski erlebte einen in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlichen Winter. Im Interview äussert sich der Verbandspräsident Urs Lehmann unter anderem zu den Erfolgen der Alpinen, Ski-Freestyler und Telemarker, zur Entwicklung in den nordischen Sportarten, zur WM-Strategie von Swiss-Ski und zu den vier Säulen, auf denen seine mögliche FIS-Präsidentschaft aufbauen soll.

Eine aufgrund der Covid-19-Situation aussergewöhnliche Saison liegt hinter uns. Wenn dir jemand im Herbst prophezeit hätte, dass es so ablaufen wird, wie es nun abgelaufen ist: Was hättest du geantwortet?

Urs Lehmann: Ich hätte das unterschrieben. Für den Schneesport im Allgemeinen war es von eminenter Bedeutung, dass eine Weltcup-Saison und Weltmeisterschaften – mit den notwendigen Restriktionen – stattfinden konnten. Swiss-Ski und auch die FIS fanden einen guten Weg mit Schutzkonzepten in Bubbles, die sehr gut funktionierten. Dank diesen Bubbles konnten wir unseren Sport ausüben. Alles war zwar sehr aufwändig, aber der grosse Einsatz hat sich gelohnt. Es war schön zu sehen, wie die Schneesport-Familie zusammengestanden ist. Swiss-Ski bot anderen Ländern oder Veranstaltern auch Hand. Aus dem Engadin Skimarathon beispielsweise wurde kurzfristig, nach der Absage der Langlauf-Rennen in Norwegen, ein erfolgreicher und faszinierender Weltcup-Anlass. Letztlich fanden hierzulande über alle Schneesport-Disziplinen hinweg 49 Weltcup-Wettkämpfe statt, so viele wie nie zuvor. All dies wäre ohne das Stabilisierungspaket des Bundes und ohne unsere treuen Sponsoren jedoch nicht möglich gewesen.

Die Alpinen konnten die erfolgreiche Vorsaison im vergangenen Winter gar noch toppen. Zum zweiten Mal in Folge resultierte Platz 1 in der prestigeträchtigen Nationencup-Wertung. Was war schwerer: Der erstmalige Erfolg 2020 nach mehr als drei Jahrzehnten oder die erfolgreiche Titelverteidigung heuer?

Seit dem Gewinn der Nationenwertung 2020 hat sich innerhalb von Swiss-Ski ein anderes Selbstverständnis und ein neues Selbstvertrauen entwickelt. Für mich war der erste Erfolg ein Durchbruch. Der diesjährige Triumph war nicht schwieriger, sondern eine Konsequenz von dem, was nach dem ersten Erfolg geschehen ist. Wir sind mittlerweile so gut aufgestellt, dass einige Athletinnen und Athleten noch einige Jahre so weitermachen oder sich gar zu Gesamtweltcup-Siegern weiterentwickeln können, etwa Loïc Meillard oder Marco Odermatt. Der zweite Sieg im Nationencup war keine Überraschung, vielmehr war er eine Bestätigung unserer Arbeit. Die Erwartungen an uns waren diesmal höher. Zu Beginn der Saison 2019/20 hatten wir diesen Erfolg noch nicht auf dem Radar gehabt.

Unsere Aufgabe ist es, dass die nächste Gruppe von künftigen Siegfahrerinnen und Siegfahrern bereit ist, wenn unsere derzeitigen Leistungsträger in fünf, sieben oder zehn Jahren mit dem Skisport aufhören.

 

Mehr Podestplätze als in der letzten Saison gab es zuletzt 1989 bei den Alpinen. Ist eine weitere Steigerung dieser 53 Top-3-Klassierungen realistisch?

Eine noch bessere Ausbeute zu realisieren wird schwierig. Aber es muss unser Ansporn sein. Man muss bedenken, dass uns gegen Saisonende fast die Hälfte unserer Abfahrer verletzungsbedingt gefehlt hat. Bei den Technikerinnen fielen den ganzen Winter über mehrere Leistungsträgerinnen aus. Wenn unsere Athletinnen und Athleten gesund bleiben, bin ich optimistisch, dass wir das aktuelle Niveau auf Weltcup-Stufe halten können. Weniger breit aufgestellt sind wir auf der zweiten Ebene, im Europacup. Mit einer neu erarbeiteten Nachwuchsstrategie haben wir bereits begonnen, diesbezüglich Gegensteuer zu geben. Es ist jedoch Geduld gefragt. Unsere Aufgabe ist es, dass die nächste Gruppe von künftigen Siegfahrerinnen und Siegfahrern bereit ist, wenn unsere derzeitigen Leistungsträger in fünf, sieben oder zehn Jahren mit dem Skisport aufhören.

Zu den Erfolgsgaranten bei Swiss-Ski gehören auch die Ski-Freestyle- und die Snowboard-Equipe.

Sie machen uns seit Jahren grosse Freude. Im vergangenen Winter gelang es, die Anzahl Podestplätze in den Sportarten Skicross, Aerials und Moguls noch einmal zu steigern. Erstmals überhaupt gewann die Schweiz die Nationenwertung im Ski Freestyle – ein fantastischer Erfolg, der aufzeigt, wie breit wir in diesen Disziplinen aufgestellt sind. Endlich gelang es unseren Skicross-Männern den Fluch zu durchbrechen und erstmals eine WM-Medaille zu erringen. Die Gold-Fahrt von Alex Fiva war für mich eines der grossen Highlights im vergangenen Winter.

Quasi unschlagbar war das Telemark-Team von Swiss-Ski. 43 Weltcup-Podestplätze und 14 WM-Medaillen sind eine unglaubliche Bilanz.

Diese sensationellen Leistungen kommen in der öffentlichen Wahrnehmung leider viel zu kurz – unsere Athletinnen und Athleten gewinnen im Telemark einfach alles. Man muss sich das mal vorstellen: Alle acht Kristallkugeln für den Gewinn der jeweiligen Einzelwertungen im Weltcup gingen in die Schweiz, hinzu kommt der überlegene Sieg in der Nationenwertung. An den Weltmeisterschaften in Melchsee-Frutt gewann unsere Equipe zwei Drittel aller Medaillen.

Wenn ich unseren Unterbau in den nordischen Sportarten anschaue, sehe ich aber viele Nachwuchsathletinnen und -athleten, die ein Versprechen für die Zukunft sind.

 

Im Alpin-, Ski-Freestyle-, Snowboard- und Telemark-Bereich ist Swiss-Ski extrem erfolgreich. Anders sieht es aktuell in der Nordisch-Sparte aus. Wie sorgenvoll blickst du in die Zukunft, zumal vor dem Hintergrund, dass Simon Ammann und Dario Cologna vor ihrer letzten Saison stehen?

Mit Simon Ammann und Dario Cologna verlieren wir zwei Koryphäen ihrer Sportarten, beides sind viermalige Olympiasieger. Dass sie eine Kluft hinterlassen werden, ist offensichtlich – einerseits als Athleten, andererseits aber auch als Menschen und Vorbilder. Dario und Simon sind Zugpferde für Swiss-Ski in jeglicher Hinsicht – sportlich, aber auch kommerziell. Sie kennt jeder. Bei jedem Skispringen und bei jedem Langlaufrennen werden sie speziell angeschaut, unabhängig von ihrem aktuellen Leistungsvermögen. Sie besitzen einfach eine Aura. Wenn ich unseren Unterbau in den nordischen Sportarten anschaue, sehe ich aber viele Nachwuchsathletinnen und -athleten, die ein Versprechen für die Zukunft sind. Im Biathlon wurde Amy Baserga zweimalige Junioren-Weltmeisterin, im Skispringen stellen wir mit Dominik Peter den Dritten der diesjährigen Junioren-WM. Hier fehlt allerdings die Breite, wobei erwähnt werden muss, dass wir im Skispringen nie besonders breit aufgestellt waren. Im Langlauf tut sich vor allem auf der Frauen-Seite einiges. Die WM-Silbermedaille von Nadine Fähndrich und Laurien van der Graaff ist für uns ein Glücksfall. Die beiden haben unserem Nachwuchs aufgezeigt, was möglich ist. Wie weit es die talentierten Athletinnen und Athleten nach oben schaffen, ist allerdings schwierig zu prognostizieren.

An den nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Oberstdorf fand rund ein Drittel aller Wettkämpfe ohne Schweizer Beteiligung statt.

Dies beschäftigt uns sehr. Wenn wir unserem eigenen Anspruch als Schneesportnation gerecht werden wollen, müssen wir hier dringend Gegensteuer geben. Wir haben deshalb entschieden, eine Frauen-Skisprung-Equipe aufzubauen. In der Nordischen Kombination beginnen wir ganz unten, haben aber die Augen offen. Es sind Pflänzchen vorhanden. Diese gilt es nun zum Wachsen zu bringen. Dies alles braucht jedoch viel Geduld.

2025 finden die Weltmeisterschaften im Biathlon sowie im Ski-Freestyle und Snowboard in der Schweiz statt, 2027 soll die Alpin-WM in Crans-Montana stattfinden. Was steckt hinter der Strategie, Weltmeisterschaften in ausgewählten Bereichen in die Schweiz zu holen?

Jede WM-Kandidatur hat ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Hintergrund. Beim Biathlon ist es unser Ziel, die Schweiz im Weltcup-Kalender zu etablieren. Hierfür kommt uns die Ausrichtung der WM 2025 zupass. Die Gesamtkonstellation war für uns bei der Bewerbung einzigartig, diese Chance mussten wir wahrnehmen. Im Alpin-Bereich ist es so, dass wir rund alle zehn Jahre Weltmeisterschaften in unserem Land ausrichten wollen. Hierbei gilt es die Ausgewogenheit zwischen Ost und West zu beachten. Zuletzt war mit St. Moritz zweimal der Osten an der Reihe, 2027 sollen die Titelkämpfe mit Crans-Montana als Austragungsort in der Westschweiz stattfinden. Das Engadin wiederum ist bestrebt, nachhaltig eine Infrastruktur im Ski-Freestyle- und Snowboard-Bereich aufzubauen. Diese WM und ihr globaler Impact bieten dieser Tourismusregion eine grosse Chance, um sich gemeinsam auf die Zukunft und ein neues, jüngeres Publikum auszurichten. Auch ohne Alpin-WM findet im östlichen Teil unseres Landes damit eine Schneesport-Grossveranstaltung statt. Über alles gesehen ergibt sich so ein kompaktes WM-Bild.

Mit dem aktuell sehr hohen Leistungsniveau besitzt Swiss-Ski eine gute Ausgangslage, um auch die finanziellen Mehrbedürfnisse abdecken zu können.

 

Ist dereinst geplant, auch für eine Nordisch-WM zu kandidieren?

Konkret ist diesbezüglich noch nichts, aber es ist in unseren Köpfen drin. Und wenn es mal in unseren Köpfen drin ist, ist es schwierig, es wieder rauszukriegen. In unserem WM-Strategiepapier ist festgehalten, dass eine Nordisch-WM Anfang der Dreissigerjahre eine Option ist. Wir richten unseren Blick zehn Jahre und mehr voraus. Wenn wir bei den Nordischen künftig breiter aufgestellt sein wollen, müssen wir investieren. 2031 wären wir beispielsweise parat, um dann bei allfälligen Heim-Weltmeisterschaften eine kompetitive Frauen-Skisprung-Equipe am Start haben zu können. Hier schliesst sich der Kreis wieder.

Um das sportliche Leistungsniveau mindestens halten zu können, ist Swiss-Ski auf zusätzliche Einnahmen angewiesen, wie wiederholt betont wird. Ist dies vor dem Hintergrund wirtschaftlich schwieriger Zeiten realistisch für die kommenden Jahre?

Wir erleben aktuell schwierige Zeiten für alle. Allerdings sind wir in der glücklichen Lage, dass unsere Schneesport-Saison auf der höchsten Stufe erfolgreich durchgeführt werden konnte. Es fanden – wie bereits eingangs erwähnt – nicht nur Weltcups in allen Disziplinen statt, sondern auch Weltmeisterschaften. Für die Werthaltigkeit unseres Sports war dies zentral. Mit dem aktuell sehr hohen Leistungsniveau besitzt Swiss-Ski eine gute Ausgangslage, um auch die finanziellen Mehrbedürfnisse abdecken zu können.

Welches sind die Hauptthemen, die du im Falle einer Wahl zum FIS-Präsidenten Anfang Juni angehen würdest?

Ich habe im Hinblick auf meine Kandidatur ein Manifest verfasst. Darin sind vier Säulen definiert, auf denen meine Präsidentschaft aufbauen soll. Erstens: Etablierung einer geschlossenen und geeinigten FIS. Es geht darum, die einzelnen Mitgliedsverbände stärker zu einen. Zu viele haben das Gefühl, sie gehören nicht zur FIS. Zweitens: Stärkung der Governance und der Strukturen der FIS. Es braucht moderne Strukturen und eine klare Haltung zu Themen wie Geschlechterfrage oder Klimawandel. Drittens: Den Schneesport sowohl für Athletinnen und Athleten als auch für Fans auf ein neues Level führen. Es braucht attraktive, kompakte Formate im Einklang mit den Bedürfnissen von Fans und Medien. Die Qualität der Events ist wichtiger als deren Quantität. Die vierte Säule schliesslich ist die optimale Nutzung des kommerziellen Potenzials von FIS-Events. Es müssen grössere Ertragsströme angestrebt werden, damit mehr Gelder in den Schneesport fliessen, wodurch wiederum die Mitgliedsverbände gestärkt werden. Eine bessere Vermarktung ist hierfür unabdingbar. Zudem müssen die umfangreichen Chancen des digitalen Wandels genutzt werden. Letztlich müssen alle Verbände profitieren können, das ist zentral. Denn ein System ist immer nur so stark wie sein schwächstes Mitglied.
 

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