«Last call» für neue Reize

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Foto: Patric Mani

Bis in den vergangenen Spätherbst hinein nahm für Martina Wyss in der Saisonvorbereitung alles den gewohnten und erwarteten Lauf. Ein Gespräch mit dem Skicross-Olympiasieger Ryan Regez Ende November veranlasste die Telemark-Weltmeisterin jedoch, sich kurzfristig völlig neue Ziele zu setzen.

Es ist wohl ein noch nie dagewesener Vorgang bei Swiss-Ski: Eine Athletin erhält als aktuelle Weltmeisterin in ihrer Sportart im Frühjahr bei der Kaderselektion den verdienten Nationalteam-Status, nimmt wie gewohnt die Vorbereitung in Angriff – und beschliesst wenige Tage vor dem Weltcup-Start, nicht den Saisonauftakt in ihrer angestammten Sportart zu bestreiten, sondern in einer anderen der elf Disziplinen von Swiss-Ski um FIS-Punkte zu kämpfen.

Martina Wyss, 28 Jahre alt und im März 2023 in Mürren Telemark-Weltmeisterin geworden, suchte eine neue Herausforderung – und blickt deshalb auf ebendiesen aussergewöhnlichen sportlichen Weg zurück. Die Athletin aus Lauterbrunnen ging im Winter 2023/24 weiterhin im Telemark-Weltcup an den Start, gleichzeitig versuchte sie aber auch, als Mitglied des Europacup-Kaders bestmöglich im Skicross Fuss zu fassen und wertvolle Erfahrungen zu sammeln.

Erfahrung, von einer Schneesportart zur anderen zu wechseln, hat die zweimalige Telemark-Gesamtweltcup-Siegerin bereits. Bis sie 20 Jahre alt war, hatte Martina Wyss eine Karriere als Alpin-Athletin ins Auge gefasst. Zusammen mit Marco Odermatt und Michelle Gisin besuchte die Berner Oberländerin die Sportmittelschule Engelberg. Starke Rückenprobleme verhinderten jedoch diesen Karriereweg. Stattdessen liess sich Wyss zur Nachwuchstrainerin ausbilden. Sie ging nach Neuseeland und betreute dort an einer Academy Teams auf Stufe U14 und U16.

Ich bin der Meinung, dass es immer gut ist, offen für Veränderungen zu sein.

Martina Wyss

Neue Perspektiven als Antrieb

Während dieser Zeit meldete sich Ruedi Weber, der langjährige Cheftrainer des Schweizer Telemark-Teams, bei ihr. Und so kam es, dass Martina Wyss nach ihrer Rückkehr in die Schweiz ins Telemark-Training einstieg. Schon kurz danach, Anfang 2018, wurde sie bei ihrem Weltcup-Debüt in Pralognan-la-Vanoise Fünfte. Seither gewann sie alles, was es in dieser Sportart zu gewinnen gibt. 2022 und 2023 sicherte sie sich den Weltcup-Gesamtsieg, im Winter 2021/22 klassierte sie sich auch in sämtlichen Disziplinen-Wertungen (Classic, Sprint, Parallel-Sprint) im 1. Rang. Und nach einmal Silber und zweimal Bronze an den Weltmeisterschaften 2019 und 2021 liess sich Wyss an den Heim-Titelkämpfen 2023 in Mürren Gold im Classic und Silber im Sprint umhängen.

Die Vervollständigung ihres Palmarès trug wesentlich dazu bei, sich im Herbst 2023 konkreter als je zuvor mit einem Sportartenwechsel zu beschäftigen. «Im Telemark bleiben mir keine grossen Perspektiven mehr, was Ziele und Events angeht», sagt Wyss. «Generell probiere ich gerne Neues aus. Ich bin der Meinung, dass es immer gut ist, offen für Veränderungen zu sein.»

Eine neue Perspektive tat sich ihr Ende November auf, als sie zusammen mit Ryan Regez, dem Skicross-Olympiasieger von 2022, und anderen Berner Oberländer Kollegen aus ihrer Kindheit beim Nachtessen sass. Seit Jahren sticheln Personen aus ihrem Umfeld, sie solle doch zum Skicross wechseln – so auch an jenem Abend. Und diesmal ging ihr der Gedanke eines Wechsels zum Skicross nicht mehr aus dem Kopf, als sie wieder zuhause war. Drei Wochen vor dem Weltcup-Auftakt im Telemark beschloss Martina Wyss, diese Option erstmals ernsthaft zu prüfen. Sie nahm mit Patrick Gasser, dem ihr bestens bekannten Skicross-Trainer auf Stufe Europacup, Kontakt auf. Daraufhin wurde ihr angeboten, mit der Weltcup- und Europacup-Gruppe einen Trainingskurs in St. Moritz zu absolvieren. Innerhalb von zwei Wochen stellte sie damit ihre Saisonplanung auf den Kopf.

Erfolgreiche Belastungsprobe

Zunächst dachte die fünffache WM-Medaillengewinnerin im Telemark, das Skicross-Abenteuer würde sich wegen ihres Rückens eher früher als später erledigen – und ein Entscheid für oder gegen einen Wechsel somit obsolet werden. Doch zu ihrer Überraschung traten nach den vier Testtagen im Engadin keinerlei Probleme auf. Wyss erhielt nach jenem Kurs nicht nur von medizinischer Seite grünes Licht, sondern auch vom Trainerteam. Dieses zeigte sich ob ihrer Performance zufrieden – und Martina Wyss wurden konkrete Optionen als Skicrosserin aufgezeigt. Sie beschloss, den Weltcup-Auftakt Mitte Dezember im Telemark auszulassen, um im Skicross FIS-Punkte im Hinblick auf einen ersten Europacup-Einsatz zu sammeln. Ihren ersten Auftritt auf der grossen Skicross-Bühne hatte sie zuvor als Vorfahrerin beim Weltcup in Arosa gehabt.

Je besser du Skifahren kannst, desto schneller kannst du deinen Fokus auf spezifische Elemente im Skicross legen.

Martina Wyss

Mittlerweile hat Martina Wyss als Skicrosserin mehrere Rennen auf zweithöchster Stufe absolviert; Anfang Februar im französischen Les Contamines fuhr sie als Achte erstmals im Europacup in die Top 10, Mitte März gab sie in Veysonnaz ihr Weltcup-Debüt. Die direkten Duelle Athletin gegen Athletin machen für sie den Reiz ihrer neuen Sportart aus. «Sowohl im Ski Alpin als auch im Telemark geht es immer um die Zeit. Die unmittelbaren Vergleiche auf der Piste sind für mich eine willkommene neue Erfahrung.»

Ein möglichst grosses Bild für eine umfassende Standortbestimmung erhalten: Das war es, worum es Martina Wyss in diesem Winter im Skicross ging. Eine seriös geplante Vorbereitungszeit hatte sie aufgrund ihres kurzfristigen Wechsels nicht. Immerhin: Skitechnisch gab es für sie keine Anlaufprobleme, das Skigefühl hat sie sich in früheren Jahren als Alpin-Athletin angeeignet. «Je besser du Skifahren kannst, desto schneller kannst du deinen Fokus auf spezifische Elemente im Skicross legen.» Betreffend Fitness konnte Wyss von ihrer Vorbereitung auf die Telemark-Saison profitieren. Nachholbedarf sieht sie, die ausserhalb der Wettkampfsaison als Medizinische Masseurin in Interlaken und Lauterbrunnen tätig ist, im Kraftbereich und im entsprechenden Muskelaufbau.

Die zu Ende gegangene Saison plante Wyss komplett zweigleisig – als Skicross- und Telemark-Athletin. Dass sie im Telemark nichts von ihrer Klasse eingebüsst hat, bewies sie Ende Januar beim Heim-Weltcup in Melchsee-Frutt, als sie an drei aufeinanderfolgenden Tagen Weltcup-Siege erringen konnte. Wie es weitergeht, lässt Wyss offen. Eine Auslegeordnung wird in diesem Frühjahr Aufschluss über ihre künftige sportliche Ausrichtung geben. «Aufgrund meines Alters war für mich klar, dass ich den Entscheid zum Wechsel noch Ende des letzten Jahres treffen musste», sagt Martina Wyss. «In meinem Kopf hiess es in Bezug auf eine neue Herausforderung in einem gewissen Sinn: last call.»

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Dieser Artikel ist im «Snowactive» ersterschienen, dem Verbandsmagazin von Swiss-Ski.

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