«Die wichtigen Pflöcke für 2026 müssen jetzt schon eingeschlagen werden»

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Mit vier Top-5-Platzierungen in Sölden - davon zwei Podest-Klassierungen - ist dem Schweizer Alpin-Team der Start in die neue Weltcup-Saison geglückt. Walter Reusser, seit knapp einem Jahr Alpin-Direktor von Swiss-Ski, äussert sich im Interview unter anderem zu Strukturanpassungen, über Optimierungspotenziale auf dem Athletenweg und zu seinen Visionen für den Schweizer Skisport.

Nummer 1 im WM-Medaillenspiegel in Cortina d'Ampezzo oder Platz 1 in der Weltcup-Nationenwertung – was ist dir lieber?

In einer Weltcup-Saison wie dieser, in welcher sehr viel Flexibilität verlangt wird und die Athleten und Betreuer vor neue Herausforderungen gestellt werden, ist der Nationencup – auch wenn es letztlich weniger Rennen wären – definitiv nicht weniger wert als letzte Saison. Es wird sich nämlich zeigen, wer als Organisation wie stark ist. Der Gewinn des Nationencups ist eine riesige Auszeichnung. Wenn wir das nochmals erreichen könnten, wäre es grandios. Die Weltmeisterschaften hingegen sind eine Momentaufnahme über ein paar Tage hinweg. Hier spielen Glück und Pech eine grössere Rolle als während einer Weltcup-Saison, die sich über vier Monate erstreckt.

Wir hatten frühzeitig einen klaren Trainingsplan, welchen wir trotz der Coronakrise nicht über den Haufen geworfen haben.


Die Saison 2020/21 ist die erste, welche komplett unter deiner Führung als Alpin-Direktor in Angriff genommen wird. In welchen Bereichen ist deine Handschrift seit Beginn deiner Tätigkeit bei Swiss-Ski im Dezember 2019 besonders gut sichtbar?

Im letzten Winter konnte ich Einfluss nehmen, was die Ruhe und Weitsicht innerhalb der verschiedenen Teams anbelangt. Es ist und war mir wichtig, dass wir uns nicht nervös machen lassen, dass wir Schritt für Schritt nehmen und dass ich verdeutlichen konnte, dass der Erfolg von alleine kommt, wenn man hart arbeitet. Dies hat vielen Trainern und auch einigen Athletinnen und Athleten Sicherheit gegeben. Aus den gewonnenen Erkenntnissen, in welchen Bereichen es noch nicht optimal lief und wo wir noch Potenzial haben, konnten wir sehr seriöse Analysen machen und daraus Schlüsse ziehen. Wir sind nun mit noch mehr Trainingsgruppen unterwegs und haben zusätzliches Personal für eine noch engere Athleten-Betreuung angestellt. Betreffend unsere Strukturen hatten wir rasch Klarheit, wir haben unsere neuen Mitarbeitenden sehr früh rekrutiert und konnten entsprechend aus den Besten auswählen. Die Selektionen und Trainingsgruppen haben wir ebenfalls früh bekannt gegeben. Die Athletinnen und Athleten sowie die Staff-Mitglieder wussten schnell, woran sie sind und was sie erwartet. Wir hatten frühzeitig einen klaren Trainingsplan, welchen wir trotz der Coronakrise nicht über den Haufen geworfen haben. Ich denke, dass wir in Sachen Klarheit Optimierungen vornehmen konnten: erst analysieren, danach planen und umsetzen.

Aufgrund der COVID-19-Pandemie bestritten die Schweizer Weltcup-Teams die Saisonvorbereitung ab Juli auf den Gletschern von Saas-Fee und Zermatt. Gibt es Überlegungen, auch künftig auf Reisen in die südliche Hemisphäre zu verzichten, womit sehr viel Geld eingespart und anderweitig eingesetzt werden könnte?

Es ist wie bei allem: Wenn man mit einer neuen Situation konfrontiert wird, ist man gezwungen, andere Wege zu gehen. Und auf diesen anderen Wegen merkt man plötzlich, dass der neue eingeschlagene Pfad gar nicht so schlecht ist wie angenommen – im Gegenteil. Saas-Fee und Zermatt im Sommer sowie Zinal und St. Moritz im Herbst/Frühwinter haben sehr gute Schneebedingungen, wir haben dort hervorragende Möglichkeiten, wofür wir sehr dankbar sind. In Südamerika geht es jeweils darum, auch einmal auf anderem Schnee und vor allem auf anderem Gelände zu trainieren, sodass ein neuer Trainingsreiz gesetzt werden kann. Ich denke, für die jüngeren Athletinnen und Athleten ist dies nicht nötig. Sie können sich auf unseren Gletschern noch zur Genüge austoben. Aber für die Arrivierten ist es schon wichtig, dass sie mit neuen Trainingsreizen konfrontiert werden. Entsprechend wollen wir in anderen Jahren auf Trainingskurse in Südamerika – ergänzend zu Schneekursen in der Schweiz – nicht verzichten.

Wir machen uns Gedanken darüber, wie wir eine bessere Balance zwischen Lebensqualität und Sportkarriere hinkriegen.


Finanziell aufwändig sind nicht nur die Trainingslager der Weltcup-Teams in der südlichen Hemisphäre, sondern der Skisport im Allgemeinen, schon auf frühen Stufen. Was entgegnest du Eltern, die sagen, der Skisport ihrer Kinder sei zu teuer und zu zeitintensiv im Vergleich mit anderen Sportarten?

Im Grundsatz ist es so, dass ich dies bejahe. Fakt ist aber auch, dass der Aufwand in jeder Sportart gross ist, wenn man zu den Besten der Welt gehören will. Dies gilt ebenso fürs normale Berufsleben. Wenn man hier in seinem Bereich zu den Besten zählen will, dann reicht es nicht, dass man alle Prüfungen besteht. Es braucht zusätzlichen Effort, man muss auf sich aufmerksam machen. Wenn es ums Finanzielle geht, gibt es verschiedene Gefässe – sei es die Sporthilfe, die Stiftung Passion Schneesport oder die Grütter-Jundt-Stiftung –, dank denen wir die Möglichkeit haben, jene Athleten und deren Familien zu betreuen und zu unterstützen, welche die Kosten nicht tragen können. Es sollte sich keine Athletin und kein Athlet gegen den Skisport entscheiden müssen, weil es am Geld scheitert. Gleichwohl machen wir uns Gedanken darüber, wie wir effizienter werden und die Herausforderungen, die auf die Kinder und Jugendlichen einprasseln, besser staffeln können, wie wir eine bessere Balance zwischen Lebensqualität und Sportkarriere hinkriegen.

Gibt es diesbezüglich schon erste Erkenntnisse?

Wir haben uns in letzter Zeit intensiv mit diesen Themen beschäftig und Analysen vorgenommen. In einem nächsten Schritt wollen wir herausfinden, wo bei den zwölfjährigen Kindern bis zum 21-jährigen Athleten die Zeit- und Geldfresser anfallen und wo und wann der Druck auf die Athleten beginnt – sei es schulisch, sportlich oder privat. Wir wollen diese Prozesse auf Papier haben und sie kennen, damit wir den sogenannten Athletenweg verschlanken und transparenter machen können. Das ist unser Ziel für den Herbst, sodass wir danach an den neuen Strukturen arbeiten können.

Ein Ziel in diesem Kontext ist es wohl auch, die sogenannten Dropouts, also die Anzahl der Athleten, die mit dem Skisport aufhören, zu reduzieren.

Richtig. Vorgelagert geht es aber auch darum zu verstehen, was überhaupt normal ist. Es ist doch klar: Wenn wir auf Stufe U16 3000 aktive Jugendliche haben, die Skisport betreiben, dann können es – nehmen wir an, sie verteilen sich auf fünf Jahrgänge – später bei den 21-Jährigen nicht 600 Athleten sein. Es bleiben schlicht und einfach die Besten übrig. Es gibt Jahrgänge, da haben wir zwei bis vier Athleten im A-Kader oder in der Nationalmannschaft. Und es gibt Jahrgänge, wo wir auf dieser Stufe niemanden haben. Es trennt sich quasi die Spreu vom Weizen. Die Frage ist nun, wie schnell dies auf welche Weise und durch wen geschehen muss. Es muss die Möglichkeit bestehen, dass man es ins Swiss-Ski Kader zurückschaffen kann, wenn man mal – aus welchen Gründen auch immer – rausgefallen ist. Es kann beispielsweise sein, dass jemand in einer bestimmten Phase in der Entwicklung etwas zurück ist oder durch private Angelegenheiten vom Spitzensport abgelenkt ist. Der Weg zurück muss möglich und transparent sein.

Auffällig ist, dass in den letzten Jahren vor allem viele junge Athletinnen schwere Verletzungen erlitten haben. Ist diese Anhäufung ein unglücklicher Zufall oder gibt es erklärbare Gründe hierfür?

Von der physiologischen Seite her kann man sagen, dass sich Frauen und Männer nicht gleich schnell entwickeln. Eine Frau kann, wenn sie die technischen Fähigkeiten hat, sehr rasch einen schnellen Schwung fahren. Und wenn sie dies kann, ist es möglich, dass sie schon früher in höhere Kader kommt. Das Eintrittsalter in den Weltcup ist bei den Frauen und Männern unterschiedlich. Die Frauen sind früher weiter, entsprechend nimmt bei ihnen die Belastung zu. Allerdings fehlten ihnen in der Vergangenheit unter Umständen Trainings von einem gewissen Umfang und einer gewissen Qualität, weshalb sie teilweise körperlich vor Herausforderungen gestellt werden. Auch kann es sein, dass sie auf bestimmten Pisten noch keine Erfahrungen haben machen können. Es besteht eher das Risiko, dass eine Frau überfordert wird als ein Mann. Und dies wiederum kann zu Verletzungen führen. Die Verletzungsbilder sind sehr unterschiedlich; es ist schwierig, darin einen roten Faden zu erkennen. Aber es ist in der Tendenz sicher so, dass man darauf achten muss, dass man den Jugendlichen – auch wenn sie schnell Ski fahren können – Zeit gibt, damit sie ihre Erfahrungen machen und sich an die verschiedenen Bedingungen anpassen können.

Wir müssen jetzt beginnen, die Athleten für 2034 aufzubauen.


Bei allem Jubel über den Sieg in der Weltcup-Nationenwertung: Auf Stufe Europacup waren die Resultate im vergangenen Winter bescheiden. Es resultierten nur fünf Rennsiege, eine Disziplinenwertung konnte nicht gewonnen werden. Wie will Swiss-Ski hier künftig Gegensteuer geben?

Anders als im Weltcup können auf Stufe Europacup nicht 1:1-Vergleiche mit dem Vorjahr gemacht werden. Der Europacup ist ein Sprungbrett. Ein Marco Odermatt beispielsweise hat in der Saison 2018/19 noch Europacup-Rennen gewonnen, im letzten Winter hat er auf dieser Stufe jedoch keinen Wettkampf mehr bestritten. Man muss entsprechend darauf achten, dass man Äpfel mit Äpfeln vergleicht. Wenn eine Generation nach etwa drei Europacup-Jahren den Sprung in den Weltcup schafft, wie wir dies nun erlebt haben, dann steht man eher wieder mit jüngeren Athletinnen und Athleten am Start. Dann muss man diese zuerst wieder nach vorne bringen. Auf der anderen Seite haben wir festgestellt, dass die Anforderungen der Athleten im Europacup, die sich in Richtung Weltcup orientieren, sehr ähnlich sind mit jenen Anforderungen, welche sie später im Weltcup haben werden. Wir müssen ihnen also die gleiche Trainingsinfrastruktur zur Verfügung stellen, weshalb wir auf diese Saison hin die Europacup-Strukturen sehr stark an jene im Weltcup angelehnt haben. Es wurden neue Trainingsgruppen gebildet. Neu haben wir sowohl im Weltcup als auch im Europacup bei den Frauen und Männern jeweils eine Speed-, eine Riesenslalom- und eine Slalom-Gruppe.

In dieser Saison wird in Cortina d'Ampezzo um WM-Medaillen gefahren, in fünfeinhalb Jahren finden gleichenorts die Olympischen Winterspiele statt. Wie lautet deine Vision für den Schweizer Skisport 2026?

Im Grundsatz kann man den Blick sogar noch weiter in die Zukunft richten. Diejenigen Athletinnen und Athleten, die bei den Olympischen Winterspielen 2030 Medaillen erringen werden, sind heute wahrscheinlich schon bei Swiss-Ski im System. Dies zeigt die langfristige Planung auf. Natürlich planen wir auch für nächstes Jahr, übernächstes Jahr und überübernächstes Jahr. Diese Mikroplanung ist extrem wichtig. Aber wir beginnen, viel weiter hinaus zu denken. Die wichtigen Pflöcke für 2026 müssen jetzt schon eingeschlagen werden. Wir müssen uns aber auch damit beschäftigen, was 2030 und 2034 wichtig ist. Wir müssen jetzt beginnen, die Athleten für 2034 aufzubauen, damit sie in unser System kommen und wir sie nicht verlieren. Wir haben aktuell viele junge Athletinnen und Athleten, die im Weltcup erfolgreich sind. Gleichwohl müssen wir den Fokus jetzt auf den Nachwuchs richten. Wir dürfen uns nicht blenden lassen und denken, dass jetzt alles gut ist und wir genau gleich wie bis anhin weiterfahren können. Die Strukturen müssen so überarbeitet werden, dass wir effizient und zielorientiert sind und wir mit einem möglichst breit aufgestellten Team 2026 am Start stehen und auswählen können, wer letztlich um die Olympiamedaillen fährt.