Abheben mit Gepäck

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Image: Keystone-sda

Mit 22 Jahren hat sich die Bündnerin Giulia Tanno schon so oft von Verletzungen zurückgekämpft, es würde für eine ganze Laufbahn reichen. Mit dem Disziplinen-Sieg im Big Air glückte ihr in der letzten Saison der Durchbruch – erneut.

In der Geschichte der Sportlerin Giulia Tanno wird es einst um die Frage gehen, was von einer Karriere bleibt. Erinnern sich die Menschen mehr an Erfolge und Medaillen? Oder an Rückschläge, Stürze und Verletzungen? An das Licht? Oder den Schatten? Tanno ist 22 Jahre alt, erst, fährt aber seit einer gefühlten Dekade für das Freestyle-Team von Swiss Ski. Sie ist Teil der in den letzten Jahren erfolgreichsten Sparte innerhalb der erfolgreichsten Sektion von Swiss-Ski: Dem Freeski-Slopestyle-und Big-Air-Team der Frauen.

Wer in der Schweiz an Freeski denkt, denkt an die Social-Media-Videos von Andri Ragettli oder an Fabian Bösch. Oder an Pyeongchang 2018 und an Olympiasiegerin Sarah Höfflin und die Olympia-Zweite Mathilde Gremaud. Der Name von Giulia Tanno fällt ausserhalb der Szene selten, weil ihr auf ihrem Weg bislang das Timing fehlte. An den grossen Wettkämpfen, an denen andere Athletinnen ihr Vermächtnis aufbauten, stand der Name Giulia Tanno gar nicht auf der Startliste. Sie fehlte verletzt.

An den Freestyle-Weltmeisterschaften in Park City vor zwei Jahren stürzte Tanno im letzten Trainingsrun, Diagnose Mittelhandbruch, Therapie: Absage des Wettkampfs. Ein Déjà-vu. Ein Jahr zuvor hatte sie schon die Olympischen Spiele in Pyeongchang mit doppelt gebrochenem Oberarm verpasst. Im Training zu den X-Games war Tanno gestürzt. Zwei Wochen vor der geplanten Abreise nach Südkorea.

Nie habe sie sich auf den Skis wohler gefühlt als in jener Saison, sagt sie rückblickend. Das macht das Olympia-Aus von allen Rückschlägen für Tanno zum Schmerzhaftesten. Statt in Südkorea abzuheben, fiel sie in ein mentales Loch. «Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll», sagt sie. In ihren Schilderungen zwei Jahre danach verzichtet sie auf die Worte "Verletzung" oder "Armbruch", sagt stattdessen "sie", "er" oder "das", wie es Traumatisierte manchmal tun. «Kaum jemand bleibt die ganze Karriere immer gesund», sagt Tanno. Kaum jemand ist aber so oft von Verletzungen betroffen wie Tanno.

Wohlfühlfaktor finden

Ihr letzter Ausfall liegt einige Wochen zurück. In der Vorbereitung auf die Saison kugelte sich die Big-Air-Disziplinensiegerin die Schulter aus, verpasste die letzte Etappe des Trainings auf dem Glacier 3000 fast vollständig. Der Auftakt des Slopestyle-Weltcups im österreichischen Stubai im November wurde für Tanno darum mehr Training als Wettkampf. «Es war das erste Mal nach der Verletzung, dass ich wieder auf grossen Kickern unterwegs war», sagt sie. Erst am Tag der Qualifikation entschied sie sich für die Teilnahme am Wettkampf, nach zwei Stürzen war ihr Programm beendet.

Stürze und Verletzungen können im Freeski fatale Folgen haben, wenn neben Knochen auch der Glaube an die eigene Gabe bricht. «Die Verletzungen spielen schon mit dem Kopf, vor allem, wenn sie bei einem bestimmten Trick passieren», sagt Tanno. Um Blockaden zu verhindern oder abzubauen, arbeitet sie mit einer Mentaltrainerin. Bei allen negativen Erlebnissen siegten bei ihr bisher immer die Lust und die Freude am Skifahren, weil nach Rückschlägen auch immer wieder Licht war.

Als die Freeskier vor einem Jahr in die neue Saison starteten, hegte Tanno wenig Erwartungen. Es ging für sie darum, sich auf dem Schnee und nach einer Fussverletzung im Skischuh wieder wohl zu fühlen. «Immerhin kann ich mitfahren», dachte sie. Tanno sprang ohne Druck, dafür mit dem grossem Glücksgefühl, wieder dabei zu sein - und war erfolgreich. An den X-Games in Norwegen sicherte sie sich im August im Big Air Silber, am Ende der Weltcup-Saison stand sie als Disziplinen-Siegerin fest.

Sie habe sich bis zum Saisonfinale in Tschechien gar nie überlegt, dass sie die Chance habe, die Kugel zu gewinnen. Der letzte Wettkampf wurde abgesagt, sodass Tanno nicht vom der Druck getestet wurde, die Führung noch zu verlieren. «Die Kristallkugel zu erhalten war ein bisschen komisch, da wir nicht gefahren sind und der letzte Big-Air-Wettkampf über einen Monat zurück lag.» Gefreut hat sie der Triumph trotz der Umstände sehr. Nun darf sie in diesem Jahr im Big Air die Rolle der Gejagten spielen, in einer Disziplin, in der für diese Saison nur noch zwei Weltcup-Wettkämpfe geplant sind. Der erste steht für Freitag in Kreischberg auf dem Programm.

Der Sport hat Spuren bei Tanno hinterlassen, Narben am Körper, Metallplatten unter der Haut, aber auch Medaillen und Kristallkugeln in den Vitrinen. Gleiches lässt sich aber auch umgekehrt sagen: Tanno prägte die Freeski-Szene und brauchte dafür keinen Olympia-Auftritt. Als erste Frau überhaupt stand sie in einem Wettkampf einen Switch 1260, dreieinhalb Umdrehungen sind das, rückwärts angefahren.

Später war sie auch die Erste, die im Feld der Frauen einen Double Cork 1080 (zwei Salti und eine Schraube) im Wettkampf zeigte. Sie gewann vier Medaillen an den X-Games und dann in der letzten Saison auch den Big-Air-Weltcup. Das Ende der Geschichte der Sportlerin Giulia Tanno mag unbekannt sein, ihre Bedeutung für die Freestyle-Szene ist aber unbestritten.