«Ich setze mich nicht mehr unter Druck»

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Foto: Nordic Focus

Benjamin Weger zeichnete sowohl in der letzten Weltcup-Saison als auch bei den letzten Olympischen Spielen für die stärksten Schweizer Resultate im Biathlon verantwortlich. Im Interview äussert sich der 32-jährige Walliser zur bevorstehenden Olympia-Saison, zur Bedeutung seiner Auszeit im Frühjahr 2020 und zu seinem Hobby, ohne das er möglicherweise heute nicht mehr Profisportler wäre.

In dieser Saison stehen die Olympischen Winterspiele in Peking als absolutes Highlight an. Wenn du «Olympia» hörst: An was denkst du da zuerst?

Benjamin Weger: Ich denke dabei nicht an ein bestimmtes Resultat, sondern an das Gesamterlebnis in PyeongChang 2018. Damals lief es für mich mit zwei gewonnenen Diplomen (jeweils 6. Rang in der Verfolgung und im Einzel, d. Red.) sehr gut. Ich war völlig ausgeglichen, spürte keinen Druck. Trotz der Kälte und des Windes: Es hat einfach gepasst damals – ganz im Gegensatz zu Sotschi vier Jahre zuvor. Dort habe ich den Tiefpunkt meiner Karriere erlebt. Mein Ziel ist es jetzt natürlich, leistungsmässig in jener Verfassung, die ich in PyeongChang hatte, nach China zu reisen. Ich hoffe, dass ich das Bild von Olympia, welches ich von 2018 her im Kopf habe, noch einmal erleben darf.

Welches sind deine ersten Olympia-Erinnerungen als Kind?

Da kommt mir spontan Gian Simmen in den Sinn, der 1998 in Nagano Gold im Snowboarden geholt hat. Diese Bilder als damals Neunjähriger sind noch irgendwo in meinem Kopf gespeichert.

Auf was hast du deinen Fokus in der diesjährigen Saisonvorbereitung gelegt?

Das Höhentraining inklusive Übernachtung in einem Höhenzimmer haben wir gestrichen. Wir haben es im Sommer 2020 noch einmal probiert, wirklich aufgegangen ist es jedoch nicht. Diesmal haben wir zusammen mit dem Trainerteam entschieden, das Höhentraining wegzulassen und dafür das eine oder andere Intervall-Training mehr einzuschieben. Heuer war ich vom ersten Tag an auf einem viel besseren Leistungsniveau als im Vorjahr. Damals habe ich in einem Leistungstief die Saison abgebrochen und dann zwei Monate lang nicht trainiert. In der heurigen Vorbereitung konnte ich mich von Anfang an auf einem anderen Level bewegen und die Trainings mit einer höheren Qualität absolvieren. Es wird gut kommen – wie gut, das werden wir sehen. Ich setze mich jedenfalls nicht mehr unter Druck.

Es kann eine Faszination sein, zugleich aber auch ein Fluch.

 

Welche Inputs brachte Alexander Wolf ein, der als Cheftrainer des Männer-Teams in die zweite Saison geht?

Am Anfang war es schon eine Umstellung. Aber seine Philosophie sagte mir von Beginn weg zu. Er achtet sehr auf die Erholungsphasen. Man merkt, dass er selbst ein absoluter Top-Athlet gewesen ist. Er kann sich in uns hineinfühlen. Er hat mich auf jeden Fall ein, zwei Schritte weitergebracht.

Was ist im Biathlon grundsätzlich wichtiger: Das Schiessen oder das Laufen?

Die vorherrschende Meinung in der Öffentlichkeit weist dem Schiessen einen grossen Stellenwert zu. Aber das Schiessen geht nicht ohne das Laufen – und das Laufen nicht ohne das Schiessen. Die Zeiten, als man mit einem guten oder sogar fehlerfreien Schiessen automatisch ein Topresultat erreichte, sind vorbei. Man muss heute möglichst alles treffen und dazu gut laufen, ansonsten klassierst du dich nicht mehr in den Top 10. Es geht sehr schnell, dass man sogar mit null Fehlern aus den Top 20 fällt. Von daher denke ich, dass sich das Schiessen und das Laufen in etwa die Waage halten.

Hat sich das in den letzten Jahren verändert?

Ja, früher konnte ein starker Läufer eher gegenüber der Konkurrenz etwas herausholen. Oder wenn man null Fehler geschossen hat, dann war man automatisch schon ziemlich gut im Rennen.

Ist das Niveau auf der Loipe allgemein also noch besser geworden?

Ja, aber im Schiessen ebenfalls. Heute kommen in einem Sprint 10, 15 Athleten fehlerfrei durch. Die Breite an der Spitze ist extrem.

Macht unter anderem das die Faszination des Biathlonsports aus?

Es kann eine Faszination sein, zugleich aber auch ein Fluch.

Ein Fluch, weil deines Erachtens ein 15. Platz unter 100 Startern in der Öffentlichkeit zu wenig geschätzt wird?

Es ist vor allem der Podestplatz, den die Leute wollen. Mit einer identischen Leistung werde ich am Tag X Fünfter, am Tag Y kann ich dann Zweiter oder Dritter sein. Wenn die Leistungsdichte so gross ist wie bei uns, hast du nicht immer alles in der eigenen Hand.

Stichwort Podestplatz: Du musstest diesbezüglich eine Durststrecke durchmachen. Zwischen den letzten beiden Podestplätzen lagen neun Jahre.

In dieser Zeitspanne realisierte ich 47 Top-10-Resultate – ohne Staffeln. Ich habe es extra mal nachgezählt.

Umso grösser war die Erleichterung nach dem 3. Platz beim Massenstart in Oberhof im vergangenen Januar.

Es war vor allem mein persönlicher Anspruch. Ich hatte es auch in den neun Jahren zuvor drauf. Aber irgendetwas hat immer gefehlt. Ich habe mir immer gesagt, dass ich mit diesem Sport nicht aufhöre, ehe ich nochmals im Weltcup aufs Podest laufe. Dass ich das kann, habe ich immer gewusst. Aber es scheiterte mehrmals an sehr kleinen Dingen.

Allein in der Saison 2011/12 liefst du dreimal aufs Podest, danach kam die angesprochene Durststrecke. Ist das allein mit fehlendem Wettkampfglück zu begründen?

Ich dachte, die Bäume wachsen in den Himmel nach diesen Podestplätzen. Ich habe trainiert wie ein Verrückter. Es gab für mich nichts anderes, als der Beste zu werden. WM, Olympia – ich dachte, das gehöre alles mir, weil es zunächst immer nur bergauf ging. Dazumal war das auch nicht unbedingt eine Illusion mit meinen damaligen Voraussetzungen. Ich bin dann aber vor lauter Eifer gnadenlos ins Übertraining hineingeschlittert. Mein damaliger Trainer hat das nicht erkannt und liess mich weiter Rennen bestreiten. Ich kam immer tiefer in diesen Strudel hinein. Das ganze Kartenhaus brach zusammen. Es gab keine Notbremse, mir wurde von niemandem eine Pause nahegelegt. Ich wusste nicht, was mit mir los ist, und stand vor einem Rätsel, warum ich plötzlich keine Leistung mehr bringen konnte. Als damals 22-Jähriger hatte ich keine Ahnung betreffend Trainingssteuerung.

... dann wäre ich heute wahrscheinlich nicht mehr Biathlet.

 

Anders reagiert hast du dann viele Jahre später, in der Saison 2019/20, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie. Du hast die Saison damals vorzeitig abgebrochen.

Corona geisterte zu jenem Zeitpunkt bereits etwas umher, aber man konnte nicht erwarten, welche Ausmasse das Ganze noch annehmen würde. Es war dannzumal der richtige Entscheid, die Saison vorzeitig abzubrechen und mit der Freundin nach Neuseeland zu reisen. Und jetzt, mehr als anderthalb Jahre später, ist jener Entscheid rückblickend betrachtet noch besser.

Musstest du damals auf andere Gedanken kommen, weil es sportlich überhaupt nicht lief?

Genau. Wandern, fischen, kein Handy-Empfang. Nichts. Totale Ablenkung. Nur die Heimreise verlief aufgrund von Corona etwas stressig. Als wir wieder Kontakt zur Aussenwelt hatten, kriegten wir Nachricht um Nachricht von zuhause. Wir merkten, dass plötzlich Chaos herrschte und wir so rasch wie möglich nach Hause mussten. Wir reisen schliesslich via Dubai in die Schweiz zurück. Schon am Tag darauf ging nichts mehr, da hatten wir Glück. Wir waren mit einem mulmigen Gefühl unterwegs, weil wir nicht genau wussten, was uns daheim erwartet. Aber ich bin happy, dass wir diese Reise machen konnten. In der Folge wäre so ein Trip aus bekannten Gründen nicht mehr möglich gewesen. Ich konnte in Neuseeland quasi auf den letzten Drücker komplett abschalten.

Und dich unter anderem dem Fliegenfischen widmen, deiner anderen grossen Leidenschaft neben dem Biathlon. Was gibt dir dieses Hobby?

Nur schon wenn ich mir Fotos anschaue von einem Trip, oder wenn ich im Winter während eines Weltcup-Wochenendes beginne, Fliegen zu binden, dann bin ich mit meinen Gedanken in einer anderen Welt – weg vom Spitzensport. Das Fliegenfischen ermöglicht mir, ab und an die nötige Distanz zum Leben als Profisportler zu gewinnen. Es gibt beim Fliegenfischen kein Müssen, es ist einfach ein tolles Naturerlebnis. Wenn ich in den schwierigen Phasen meiner Karriere diesen Ausgleich nicht gehabt hätte, wäre ich heute wahrscheinlich nicht mehr Biathlet.

Hast du schon Pläne, wenn du deine Aktivkarriere als Biathlet dereinst beenden wirst?

Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Richtung Trainer gehen wird. Gerne möchte ich meine Erfahrungen, die ich über all die Jahre als Athlet gesammelt habe, an meine Nachfolger weitergeben.

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