«Die Ehrenamtlichkeit ist das höchste Gut in unserem System»

Zurück

Urs Lehmann nimmt mit vollem Elan sein elftes Jahr als Präsident von Swiss-Ski in Angriff. «Wenn man Freude an der Arbeit hat, zählt man die Stunden nicht. Amtsmüdigkeit spüre ich keine. Ich habe nach wie vor viel Spass und Freude und ein lässiges Team.» Kurz vor dem Start in den Weltcup-Winter äussert sich der Abfahrtsweltmeister von 1993 zu den Herausforderungen und Zielen des Verbandes.

Urs Lehmann, die Bilanzen von Swiss-Ski an Grossanlässen dürfen sich sehen lassen.

«Das ist so. Nicht nur in einer Sportart wie Ski Alpin läuft es gut, auch in den übrigen Disziplinen – wir haben ja elf Sportarten – dürfen wir mit einer gewissen Genugtuung feststellen, dass wir eine Breite auf gutem Niveau hingekriegt haben. Und dort, wo wir Probleme hatten, ich denke an das alpine Krisenjahr 2013, haben wir die Lehren gezogen.»

Mit Nachhaltigkeit?

«Wir hatten wiederholt angekündigt, an der WM 2017 in St. Moritz parat zu sein. Dieses Wort konnten wir halten. Auch da haben alle mitgezogen. Auf der Welle, die wir, die die Athleten entfacht haben, konnten wir bisher weiterreiten. Besondere Freude bereitet mir, dass es mit dem Nachwuchs vorwärts geht und die Massnahmen, die wir in der Krisenzeit ergriffen haben, Früchte tragen. Wenn wir in die Zukunft schauen, auf die Jungen, das Slalom-Team, das Damen-Team, das unglaublich stark und trotzdem noch jung ist, darf man Freude haben und zuversichtlich sein. Aber ...»

Ja...?

«... das muss ich wohl nicht speziell erwähnen: Eine Garantie haben wir nicht. Eine oder zwei Verletzungen von Leistungsträgern können die Situation verändern. Doch grundsätzlich sind wir gut aufgestellt.»

Ein Fernziel ist der Gewinn der Teamwertung im alpinen Weltcup – eine Illusion oder ein realistisches Ziel?

«Man muss realistisch anerkennen, dass die Österreicher immer noch ein rechtes Stück voraus sind. Vor kurzer Zeit hätten wir noch gesagt: die sind ausser Reichweite. Jetzt können wir, wenn alles optimal läuft und es keine gravierenden Verletzungen und Ausfälle von Leistungsträgern gibt, in den nächsten zwei, drei Jahren vielleicht sogar dieses Ziel ins Auge fassen. Die Damen waren schon im vergangenen Winter auf Augenhöhe mit den Österreicherinnen, und das mit einer rekonvaleszenten Lara Gut.»

Und bei den Herren?

«Da sind wir noch nicht ganz so weit, aber die Perspektiven sind gut. Wir haben ein tolles Team und Athleten an der Weltspitze – allen voran Beat Feuz. Aber wir sind noch zu wenig breit aufgestellt im Weltcup. Wir haben Junge wie den fünffachen Junioren-Weltmeister Marco Odermatt und andere mit grossem Potenzial. Wenn es den Trainern gelingt, diese an die Weltspitze heranzuführen, dürfen wir uns auf schöne Jahre freuen.»

Bei den Frauen vollzogen Cheftrainer Hans Flatscher und Nachwuchschef Beat Tschuor eine Rochade – im Prinzip ein idealer Personalwechsel von unten nach oben und oben nach unten.

«Ich betrachte das als Zeichen für die Stärke der Struktur, die Stärke der Mannschaft, die wir in den letzten Jahren miteinander erarbeitet haben. Wenn man jemand aus dem Weltcup zurücknehmen kann mit all den Erfahrungen, die Hans Flatscher besitzt, um das dem Nachwuchs zu vermitteln, ist es das Beste, was passieren kann.»

Bei den Nordischen droht dagegen mit den absehbaren Rücktritten der Superstars Simon Ammann und Dario Cologna ein Aderlass, der den Verband hart treffen könnte.

«Das wird uns hart treffen. Es gibt nicht viele Athleten mit vier olympischen Goldmedaillen. Das ist aussergewöhnlich, auch international. Beide haben ihre Sportarten dominiert und sind jetzt noch Persönlichkeiten mit weltweiter Ausstrahlung. Die werden uns einst fehlen, und es wird schwierig, diese Lücken zu schliessen. Ich hätte mir, vor allem im Skispringen, einen schnelleren Generationenwechsel gewünscht. Wir kämpfen darum, an der Basis eine «kritische Masse» zusammenzubringen, um überhaupt die Chance zu erhalten, an die Weltspitze heranzukommen. Im Langlauf hätten wir die Breite und auch gute Resultate. Aber für Medaillen und Podestplätze braucht es noch einen Schritt.»

Im Verband gibt es elf Sportarten, aber in der Öffentlichkeit besitzt Ski alpin den grössten Stellenwert. Erzeugt das nicht manchmal Neid?

«Wir, und auch ich, leben und verbreiten das Credo, dass jeder Sportler hochgeschätzt ist. Auch eine Weltmeisterin im Telemark bringt Wahnsinnsleistungen. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung, auch als Vermarktungspotenzial, sind die Alpinen am attraktivsten. Das ist nicht nur in der Schweiz so. Deshalb machten wir – schon vor meiner Zeit – eine Priorisierung, in der festgelegt wurde: Alle sind wichtig, aber es gibt solche, mit denen mehr Mittel generiert werden kann – und das sind halt die Alpinen. Dank dieser Priorisierung haben sich alle mit dieser Thematik befasst, Trainer wie Athleten, und sie wird auch respektiert.»

Droht in einem professionalisierten Verband den Klubs, die mit ihren ehrenamtlich tätigen Leuten immer noch die Zelle von Swiss-Ski bilden, nicht eine Art Marginalisierung?

«Ich würde sogar sagen, die Ehrenamtlichkeit ist das höchste Gut in unserem System. Diese ist von zwei Seiten her gefährdet. Die eine ist der berufliche und soziale Druck von der Gesellschaft, der es immer schwieriger macht, die nötige Zeit aufzubringen. Das spürt man an der Basis. Die andere Seite sind «wir». Ich nenne uns die Spitze des Eisbergs. Aber eigentlich sind es die Klubs und Regionalverbände, die den Skiverband ausmachen und tragen. Dazu müssen wir, die in Swiss-Ski-Kleidern herumlaufen, Sorge tragen und jenen Leuten, die sich ehrenamtlich engagieren, Respekt und Wertschätzung entgegenbringen.»

Interview: Richard Hegglin

Zum kompletten Interview in der «Snowactive»-Ausgabe Nr. 1 2018/19