«Die Erwartungen an uns sind hoch»

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Swiss-Ski erlebte zum wiederholten Mal in den vergangenen Jahren einen aus sportlicher Sicht überaus erfolgreichen Winter. Präsident Urs Lehmann blickt im Interview auf die zurückliegenden Monate zurück, äussert sich zu den anstehenden Herausforderungen und gibt Auskunft zu Projekten, denen verbandsintern in den kommenden Jahren besonderes Gewicht beigemessen werden soll.

Was hat dich in der Saison 2022/23 als Präsident von Swiss-Ski am meisten gefreut?

Urs Lehmann: Ich habe – über die verschiedenen Teams hinweg – noch nie einen so ausgeprägten Teamspirit erlebt wie in der abgelaufenen Saison. Wo früher ein Gärtchendenken vorherrschte, erlebt man heute das Gegenteil davon. Man unterstützt sich gegenseitig, spricht mit einer Stimme, packt die Herausforderungen gemeinsam an. Ich denke, dass dies ein grosser Teil des Geheimnisses des Erfolgs in den verschiedenen Sportarten ist. Kürzlich sagte die österreichische Verbandspräsidentin zu uns, dass ihr aufgefallen sei, wie bei uns alle an einem Strick ziehen und zusammenhalten. Das war wie eine Art Ritterschlag.

An der Alpin-WM hat nicht jeder Schweizer Trumpf gestochen – einzelne Athletinnen und Athleten bekundeten im einen oder anderen Rennen Pech oder konnten nicht die Bestleistung am Tag X abrufen. Gleichwohl durfte Swiss-Ski über sieben Medaillen und Platz 1 im Medaillenspiegel jubeln. Was sagt das über die Schweizer Alpinen aus?

Unser Alpin-Team ist sehr stark. Noch mehr als die Weltmeisterschaften bringt dies die Nationen-Wertung im Weltcup zum Ausdruck. Platz 1 hat unser Team auf souveräne Art und Weise herausgefahren – mit 2589 Punkten Vorsprung auf Österreich. Wir mussten das Glück nicht übermässig beanspruchen, um mit sieben Medaillen von der WM aus Frankreich nach Hause zu reisen. Es hätte durchaus auch noch den einen oder anderen Podestplatz mehr geben können. Das spricht für die Stabilität und Stärke dieses Teams und stimmt mich für die Zukunft sehr zuversichtlich.

Kann die vergangene Weltcup-Saison bei den Alpinen mit 24 Siegen und 57 Podestplätzen in nächster Zeit überhaupt noch getoppt werden?

Diese Saison wird als eine herausragende in die Geschichte eingehen. Wir können in Zukunft kaum in jedem Jahr so erfolgreich sein, das ist extrem schwierig. Da mache ich mir keine Illusionen. Unsere Top-Athletinnen und -Athleten wurden im vergangenen Winter zum Glück weitestgehend von schwerwiegenden Verletzungen verschont. Wir befinden uns seit einigen Jahren auf der Welle des Erfolgs – nun gilt es, so lange wie möglich auf ihr zu reiten. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Wir haben im Bereich Alpin die Strategie definiert, dass wir von der Basis her 30 Prozent mehr Kinder und Jugendliche in den Sport bringen wollen. Auf der Männer-Seite sieht es aktuell unterhalb des Weltcups sehr erfreulich aus. Wir waren im Europacup so erfolgreich wie noch nie. Bei den Frauen sind wir auf zweithöchster Stufe "nur" auf Platz 3. Der Fokus in den kommenden Jahren muss darauf liegen, dass wir auf Frauen-Seite an der Spitze breit aufgestellt bleiben.

Die Ski-Krise 2013 hat uns erlaubt, alles zu hinterfragen.

 

Vor zehn Jahren war die Ski-Schweiz von einer Erfolgswelle sehr weit entfernt, vielmehr befand sie sich im Tal der Tränen. Das Alpin-Team von Swiss-Ski beendete die Weltcup-Saison 2012/13 mit lediglich sieben Podestplätzen. Nun sind es achtmal mehr. Die Männer egalisierten mit 18 Siegen sogar die Schweizer Rekordmarke aus den Achtzigerjahren. Welches sind die wesentlichen Punkte, die eine derartige Leistungssteigerung innerhalb eines Jahrzehnts möglich gemacht haben?

Die angesprochene Ski-Krise 2013 hat uns erlaubt, alle notwendigen alten Zöpfe abzuschneiden, alles zu hinterfragen. Die Baisse in jenem Winter hatte ihren Ursprung teilweise auch in einem Generationenwechsel. Didier Cuche hat seine Karriere 2012 beendet, Beat Feuz war verletzt. Sehr wichtig war, dass wir festgelegt haben, dass unsere eingeleiteten Massnahmen nicht auf 2014 oder 2015 zielen, sondern erst auf die Heim-WM 2017 in St. Moritz. Wir haben uns nicht unter Zeitdruck setzen lassen und von Anfang an einen Vier-Jahres-Plan verfolgt. 2017 waren wir dann bereits auf einem sehr guten Niveau. Und man spürte damals – auch mit Blick in den Europacup –, dass wir am Anfang erfolgreicher Jahre stehen.

Im nordischen Bereich gab es keine WM-Medaille zu feiern, im Weltcup war die Steigerung insbesondere im Biathlon jedoch markant. Im Langlauf gab es ebenfalls mehr Top-3-Klassierungen als vor Jahresfrist. Wie beurteilst du hier die jüngste Entwicklung?

Über die Entwicklung im Biathlon bin ich sehr glücklich. Wir durften uns über vier Podestplätze freuen, darüber hinaus gab es von unseren teils noch sehr jungen Athleten verschiedene weitere Top-10-Klassierungen. In der U25-Wertung wurde Niklas Hartweg Erster, Sebastian Stalder Dritter. Wir haben innerhalb des Biathlon-Teams auf die vergangene Saison hin verschiedene Anpassungen vorgenommen und unter anderem mit Kein Einaste einen spezifischen Langlauf-Trainer dazu geholt. Die Entwicklung stimmt mich zuversichtlich, was die WM 2025 in Lenzerheide anbelangt. Die Vorgabe ist, dass wir dannzumal das Potenzial haben, Medaillen gewinnen zu können. Diesbezüglich befinden wir uns auf Kurs. Nicht zufrieden bin ich dagegen mit unserem Abschneiden im Skispringen. Immerhin gab es gegen Saisonende ein paar Lichtblicke. Aber insgesamt war es zu wenig, hier braucht es eine selbstkritische Analyse. Im Langlauf ist Nadine Fähndrich mit ihren drei Weltcup-Siegen zur erfolgreichsten Schweizer Langläuferin aufgestiegen, aber wir dürfen uns durch ihre Erfolge nicht blenden lassen. Es gibt einige hoffnungsvolle junge Athletinnen und Athleten wie Valerio Grond oder Janik Riebli, aber insbesondere die Arrivierten auf Männer-Seite haben nicht das erbracht, was wir uns erhofft haben.

Zu den Erfolgsgaranten gehören seit Jahren die Ski-Freestyle- und Snowboard-Teams von Swiss-Ski. Zehn Medaillen durften an den Weltmeisterschaften in Bakuriani bejubelt werden – nie zuvor war die Schweizer Bilanz hier besser. Worauf führst du die schon seit Jahren anhaltenden Erfolge in den verschiedenen Disziplinen zurück?

Wir verfügen immer wieder über neue, aufstrebende junge Athletinnen und Athleten, was zuletzt beispielsweise die Junioren-Weltmeisterschaften wieder gezeigt haben. Im Skicross gab es da drei Medaillen, im Snowboard Alpin zwei. Wir verfügen im Snowboard und Ski Freestyle seit Jahren über sehr gute Trainer, es herrscht Kontinuität. Der Erfolg des Aerials-Teams beispielsweise ist das Ergebnis einer konsequenten Nachwuchsförderung, die wir vor zehn Jahren unter der Führung von Michel Roth mit Manuela Müller initiiert haben. Die Teams fühlen sich wohl, Teil von Swiss-Ski zu sein. Das war vor zehn Jahren in Bezug auf Snowboard und Ski Freestyle noch nicht überall so.

Im Telemark stand für das seit Jahren sehr erfolgreiche Schweizer Team im vergangenen Winter ein besonderes Highlight an – die Heim-Weltmeisterschaften in Mürren. Du warst selbst vor Ort. Welche Eindrücke sind bei dir haften geblieben?

Das Schweizer Team umfasste drei Frauen und sechs Männer. Jede der drei Frauen hat eine Goldmedaille gewonnen, bei den Männern stand jeder mindestens einmal auf dem Podest. Das ist unglaublich. Unsere Telemark-Equipe ist eine kleine Familie, innerhalb derer sehr grosse gegenseitige Wertschätzung und Respekt vorherrschen. In der öffentlichen Wahrnehmung mag Telemark in der Schweiz eine Randsportart sein, nicht aber, was die erbrachten Leistungen anbelangt. Ich bin immer wieder beeindruckt von den hochstehenden, attraktiven Rennen.

Welches sind aus deiner Sicht im sportlichen Bereich aktuell die grössten Herausforderungen?

Wie bereits erwähnt, liegen diese im nordischen Bereich – im Skispringen und im Langlauf. Wir wollen diese beiden Sportarten dorthin zurückbringen, wo sie hingehören – und wo man sie vom Umfeld her auch erwarten darf. In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir im Skispringen immer Athleten, die sich in der absoluten Weltspitze bewegt haben. Aktuell ist das nicht mehr so. Ganz wichtig ist für uns im nordischen Bereich das Diversity-Management, das bei den Alpinen seit Jahrzehnten hervorragend funktioniert. Im Skispringen fördern wir das Frauen-Team nun konsequent. Vor zwei Jahren an der nordischen Ski-WM musste ich feststellen, dass wir bei einem Drittel aller Wettkämpfe nicht vertreten gewesen waren, insbesondere bei den Medaillen-Entscheidungen der Frauen. Es gibt im Frauen-Skispringen und in der Nordischen Kombination mittlerweile einzelne hoffnungsvolle Athletinnen und Athleten, die wir nun behutsam aufbauen und Schritt für Schritt an den Weltcup heranführen müssen. Bei den Nordischen haben wir noch einige Hausaufgaben zu erledigen.

Hausaufgaben gibt es auch in einem anderen Bereich. In weniger als zwei Jahren stehen in Graubünden zwei Weltmeisterschaften an. Zunächst in Lenzerheide die Titelkämpfe im Biathlon, danach im Engadin jene im Ski Freestyle und Snowboard. Wie zufrieden bist du mit den bisherigen Vorbereitungen? Und welches sind die grössten Hürden, die bis Anfang 2025 noch gemeistert werden müssen?

Im Engadin sind wir sehr gut auf Kurs. Es herrscht dort grosser Enthusiasmus und Rückhalt. Das Team vor Ort verfügt aufgrund verschiedener Grossanlässe in der Vergangenheit auch über viel Erfahrung. In Lenzerheide spüre ich bei einzelnen Stakeholdern bislang noch nicht die erhoffte Begeisterung, obschon die Biathlon-WM für die gesamte Region eine sehr hohe Wertschöpfung mit sich bringt.

Strukturell und finanziell steht Swiss-Ski so gut da wie noch nie, um den Sport zu unterstützen.

 

Swiss-Ski seht seit Jahren auf einem wirtschaftlich starken Fundament. Mit dem neuen Main Partner Sunrise wurde ein langfristiger Vertrag abgeschlossen, zuletzt auch mit Raiffeisen. Kann man sagen, dass Swiss-Ski finanziell so gut dasteht wie noch nie zuvor in der Verbandsgeschichte?

Strukturell und finanziell steht Swiss-Ski in der Tat so gut da wie noch nie, um den Sport zu unterstützen. Es fliesst so viel Geld in den Sport wie nie zuvor, allerdings muss man sich auch stets darüber im Klaren sein, dass Erfolg kostet. Die finanziellen Mittel helfen uns, damit wir uns im sportlichen Bereich weiterentwickeln und verbessern können. Der sportliche Erfolg wiederum hilft, finanzielle Mittel zu generieren, die dann wiederum in den Sport fliessen.

Der Breitensport soll innerhalb von Swiss-Ski mehr Gewicht erhalten. Wie soll das konkret umgesetzt werden? Welche Projekte sind geplant?

Zuletzt lag unser Fokus stark auf dem Sport, was sich auch als richtig erwiesen hat, wenn man die Resultate der vergangenen Jahre betrachtet. Aber wir möchten in Zukunft den Fokus auch wieder mehr auf unsere Mitglieder und den Breitensport legen. Darum haben wir die Direktion Breitensport in der neuen Struktur auf Stufe Geschäftsleitung angesiedelt. Was mir vorschwebt, ist das sogenannte «Holländer Modell». Der holländische Skiverband hat in seinem eigenen Land keine Berge, verfügt aber gleichwohl über rund 70'000 Mitglieder. Er kriegt diese hohe Zahl hin, indem er seinen Mitgliedern spannende Dienstleistungen zur Verfügung stellt – angefangen von Skiversicherungen bis hin zu Ferienbuchungen. Der holländische Verband pflegt eine gänzlich andere, intensivere Interaktion mit seinen Mitgliedern. Damit generiert er einen substanziellen Beitrag. Hier sehe ich auch für Swiss-Ski einen Wachstumstreiber. Bislang läuft bei uns in Sachen Mitglieder vieles über den Sport, auf der Ebene Nachwuchs respektive auf regionaler Stufe.

Nachwuchs ist ein gutes Stichwort. Unter dem Dach von Swiss-Ski werden in unterschiedlichen Schneesportarten jeweils verschiedene Events respektive Serien organisiert, um die Jugendlichen auf den Schnee zu bringen. Gibt es hier – aufgrund im Laufe der Jahre veränderter Rahmenbedingungen – Bestrebungen, vereinzelt Anpassungen vorzunehmen?

Im Grundsatz beneiden uns die anderen Skiverbände um unseren Grand Prix Migros. Mit seinen rund 6000 Teilnehmenden ist dies nach wie vor das grösste Kinderskirennen der Welt. Es ist aber sicherlich eine Aufgabe, bei einem über Jahrzehnte etablierten Event zu prüfen, wie man ihn jung halten kann. Wir haben in jüngster Vergangenheit auch Formate weiterentwickeln können wie beispielsweise den Migros Ski Day für Familien, welcher boomt und jeweils ausverkauft ist. Damit haben wir definitiv den Nerv der Zeit getroffen. Ich denke, dass wir heute mit unseren 20 Projekten über die verschiedenen Sportarten grundsätzlich gut aufgestellt sind. Gleichwohl möchten wir dem Breitensport künftig mehr Gewicht beimessen.

Unter deiner Führung ist Swiss-Ski extrem gewachsen. Wie sieht deine Vision für den Verband bis 2030 aus?

Wir haben um den Sport herum so viele Themen und Projekte wie noch nie – angefangen bei den verschiedenen Heim-Weltmeisterschaften in den kommenden Jahren. Wir sind daran, unsere Grossveranstaltungsstrategie umzusetzen und werden in den kommenden Jahren auf verschiedenen Ebenen viele Erfahrungen im Zusammenhang mit Schneesport-Grossevents machen. Im Bereich Leistungssport befinden wir uns über alles gesehen auf einem sehr hohen Niveau. Dieses gilt es zu halten und uns gleichzeitig in einzelnen Bereichen wie Skispringen und Langlauf zu verbessern. Wie ich bereits erwähnt habe, wollen wir zudem substanziell mehr Mitglieder für unseren Verband gewinnen und die Interaktion mit unseren Mitgliedern massgeblich verbessern.

Mit welchen Erwartungen und Hoffnungen blickst du auf die kommende Saison 2023/24?

Aufgrund der Tatsache, dass mit Ausnahme der Biathlon-Weltmeisterschaften die Grossanlässe im kommenden Winter fehlen, wird der Fokus auf dem Weltcup und den jeweiligen Gesamt- und Disziplinenwertungen liegen. Dies führt in den verschiedenen Sportarten zu einem leicht angepassten Trainingsaufbau und einer leicht angepassten Saisonplanung. Ein Highlight für uns wird der erstmalige Biathlon-Weltcup Mitte Dezember in Lenzerheide sein. Im Ski Alpin sind wir die Nummer 1, also muss es unser Anspruch sein, dass dies auch im kommenden Winter so sein wird. Die Erwartungen an uns sind hoch, aber damit müssen und werden wir umgehen können.